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Die stählerne Mauer

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Ludwig Ganghofer
Die stählerne Mauer / Reise zur deutschen Front 1915, Zweiter Teil

1

3. März 1915.

Es gibt Bilder, die sich dem in Erregung schauenden Auge so glühend einprägen, daß sie, wenn man die Lider schließt, immer wieder aus der Nacht heraustreten und in roten Linien die geschaute Wirklichkeit nachzeichnen. Ein solcher Nervenreiz, der auf der Netzhaut nicht mehr erlöschen will, ist für mich das Vernichtungsbild des Forts Boussois bei Maubeuge geworden.

Vor Wochen schilderte ich die Ruine, in die das Fort Les Ayvelles durch die deutschen Haubitzen verwandelt wurde. Dieses Bild der Zerstörung schien mir keiner Übertreibung mehr fähig. Aber was ich damals gesehen habe, verhält sich zum Untergangsbilde von Boussois wie ein Häuflein Glasscherben zum Trümmerfelde eines Bergsturzes.

Wenn ich an Maubeuge denke und die Augen schließe, erwachen zuerst die sinnlos durcheinandergewirrten Linien eines von einer Mörsergranate erzeugten Explosionsschachtes, der durch den hohen Erdwall trichterförmig hinunterstürzt in ein Festungsgewölbe und durch die darunterliegende Kasematte sich noch abwärts bohrt bis in den Keller. Der Schacht windet sich zickzackähnlich hin und her, als hätte ihn ein Blitzstrahl von der Dicke eines vielhundertjährigen Baumes ausgebrannt. Und wenn auch die Sonne eben hineinscheint in den weitausladenden Erdtrichter, so ist doch drunten in der Tiefe noch immer die schwarze Finsternis.

Ich bin über steile Felswände unserer Berge hinweg gestiegen und habe auf das winzige Spielzeug der Talwälder über tausend Meter tiefe Abstürze hinuntergeschaut, ohne daß ich ein Gefühl des Schwindels empfinden lernte. Aber hier, im zerstörten Fort Boussois, am Rande dieses nur zwölf oder vierzehn Meter tiefen Kamins, den der brüllende Kriegsteufel durch drei Stockwerke einer mit Soldaten vollgepfropften Festungskaserne hinunterschlug bis in das Kellerdunkel – hier befiel mich ein Schwindel des Grauens. Hier lernte ich verstehen, was mir immer unglaublich schien, wenn ich es erzählen hörte: daß eine solche Festung, gebaut, um einer Welt zu trotzen, sich nach einer Beschießung von wenigen Stunden ergab, und daß die noch Lebenden der Besatzung wie Wahnsinnige aus dem Tor herausrannten oder getaumelt kamen wie nach Atem Ringende, wie Erstickende. Der grauenvolle Anblick dieses Schachtes erläuterte mir auch ein Bild, das ich am folgenden Tage zu sehen bekam: das Bild des Krüppelsaales im Spital der französischen Schwerverwundeten zu Avesnes.

Ich wollte diesen Saal betreten. Aber nach dem ersten Schritt über die Schwelle mußte ich stehen bleiben – etwas Fürchterliches hatte mir an den Hals gegriffen. Gegen achtzig Betten. Und jedes Bett hatte seinen uniformierten Gast. Ein Gewirre bunter Farben. Infanteristen, Kanoniere und Reiter, Spahis und Turkos, Europäer und Afrikaner – aber unter ihnen kein einziger mehr, der ein ganzer Mensch war. Der eine ohne Beine, der andere ohne Arme, ein dritter mit halbem Gesicht. Einarmige und Einfüßige, mit Krücken und mit Stelzbeinen, mit umgeknickten Ärmeln und mit aufgebogenen Hosenschäften, mit Armstummeln, die keine Hand mehr hatten, und mit Beinstümpfen, die ohne Fuß waren. Bleiche Gesichter und braune und schwarze, Knaben und Männer. So saßen oder lagen sie auf ihren Betten, keiner bewegte sich, alle waren unbeweglich, stumm, mit trauervollen oder stumpf gewordenen Augen. Und dennoch schien es mir, als spräche aus allen Gesichtern eine heiße Erwartung, eine ungeduldige Sehnsucht. Bei ihnen war ein junger französischer Arzt, dessen ruhiges Benehmen und mildes Wesen mir sehr gefiel. Er sagte mir, daß diese achtzig reisefertig wären seit vier Tagen, und der Zug, der sie durch Deutschland nach Genf bringen sollte, stünde seit vier Tagen zur Abfahrt bereit; aber die Einwilligung der französischen Regierung zum Austausch der Kriegsuntauglichen käme nicht, noch immer nicht. »Das Warten wird ihnen schwerer mit jeder Stunde.«

Schweigend hatte ich dieses martervolle Bild betrachtet, schweigend die Worte des Arztes angehört. Meine Gedanken sahen den Jammer, der diese Sehnsüchtigen in ihrer Heimat erwartet. Und aus meiner Kehle preßten sich die Worte heraus: »Das wird keine schöne Reise!« Erst sah mich der Arzt ein bißchen verwundert an – als hätte ich so mangelhaft Französisch gesprochen, daß er mich nicht verstehen konnte. Dann nickte er ernst und sagte: »Sie haben recht! Keine schöne Reise, das!«

Als ich aus dem kühlen stillen Saal hinausgetreten war in die Sonne, blieb ich stehen, schloß die Augen – und sah wieder den Granatentrichter des vernichteten Forts von Boussois. Man versteht das Bild des französischen Krüppelsaals von Avesnes, wenn man das erschütternde Vernichtungsgemälde von Maubeuge gesehen hat. Wie viele Stummgewordene, wie viele Beine und Arme und formlose Menschenreste mögen unter diesen Bergen von Trümmern noch begraben liegen? Sie bleiben, wo sie sind; es geht ihnen wie den Kanonen des Panzerturms. Ihm hat eine deutsche Granate die aus Stahl und Eisenbeton erbaute Decke zerdrückt, als wär's nur die Schale einer Krachmandel gewesen! Im Innern des Turmes ist das viele Eisenwerk der Geschützmaschinerie zu so irrsinnig verschnörkelten Klammern und Polypenformen ineinander gepreßt, daß man die zwei eingequetschten Kanonen nicht mehr herauszubringen vermochte; sie liegen und hängen noch immer da und strecken aus dem konfusen Stahlknäuel ihre schon mit Rost und Grünspan behangenen Mündungen heraus, gleich den aufgerissenen Mäulern verschmachteter Riesenfische. Und wohin man sonst noch blickt, alles ist ein Gewirr von Eisenfetzen und Mauerbrocken, von Schutt und Trümmern, von unbegreiflich zerrissenen Erdformen. Und alles ist öd und menschenleer, alles trostlos ineinandergeschmolzen zur schauerlichen Todesmaske eines Unterganges, der keine Auferstehung mehr erleben wird. Noch kommende Jahrhunderte werden sagen: »So wirkten die deutschen Waffen!«

Solche Waffen besaßen wir und erhoben sie nie und lebten mit allen Völkern in redlichem Frieden. Nun, da fremde Eifersucht auf die Blüte des deutschen Lebens uns zwang zu diesem Kriege, nun sollen unsere Feinde auch die gigantische Gewalt der deutschen Waffen verkosten an ihrem Gut und Blut! Die Zerstörungsbilder, die ich sehe, erfüllen mich mit Grauen und Schreck. Aber ich bin ohne Mitleid. Warum ließ man uns nicht in Ruhe?

Übrigens, bei Maubeuge ist auch eine Trümmerstätte zu sehen, die nicht von der Wirkung deutscher Waffen herrührt: das Schuttfeld der Munitionsmagazine, deren Sprengung durch die Engländer veranlaßt wurde, als die Franzosen das weiße Fähnchen aufziehen mußten. Frankreichs zärtliche Verbündete benahmen sich da nicht sonderlich rücksichtsvoll gegen die französische Bevölkerung. Englische Offiziere ließen die gewaltige Sprengung vornehmen, ohne die Einwohnerschaft des umliegenden Stadtteils vorher zu verständigen. Viele Häuser wurden unter dem Luftdruck der Explosion zu Ruinen ineinandergerüttelt; und Steintrümmer, so groß wie erratische Blöcke, flogen als Zermalmungsgeschosse durch die Hausmauern und durch alle Stockwerke der von Menschen, von Frauen und Kindern bewohnten Gebäude.

An die Trümmerberge dieses großen Massengrabes mußte ich denken, als ich gestern im Lazarett zu Lille die ersten Engländer sah, denen ich auf meiner Frontreise begegnete. Dank der deutschen Pflege, die sie genossen, erfreuten sie sich schon wieder eines sehr gesunden Aussehens. Von ihnen erregten zwei meine kulturelle Aufmerksamkeit. Während die halbgenesenen Franzosen sich dienstwillig mit ihren noch leidenden Kameraden beschäftigten, überwacht von einem jungen französischen Arzte, der sehr höflich war und einen netten Eindruck machte, saßen die beiden Engländer abgesondert und teilnahmslos auf den besten Plätzen beim warmen Ofen. Der eine las – vermutlich einen von Englands schmachtenden Romanen –, der andere rauchte und spuckte. Als mein Führer die beiden ansprach, benahmen sie sich sehr mißlaunig und ungezogen. Das war nicht der Stolz eines Feindes, es war nur Mangel an guter Sitte, nur Flegelei. – Möglich, daß es meinem Urteil an gerechter Objektivität gebrach; denn während ich die zwei kratzborstigen Sprößlinge des britischen Leuen betrachtete, empfand ich selbst auf meiner Schattenseite ein Gefühl, als hätte sich zwischen meinem Nacken und der tiefer liegenden Gegend jedes kleinste Härchen gesträubt, das ich da hinten zu besitzen scheine. Dieser unangenehme Aufbäumungsreiz beschwichtigte sich erst, als ich den Söhnen des »zivilisierten Albions« den deutschen Rücken zudrehte und wieder leidende Menschen sah.

Unter den Lazarettpfleglingen befanden sich auch vier Indier, die gerade jetzt, nach dem unerquicklichen Nachgeschmack des Englischen, in mir ein erhöhtes Interesse wachriefen, das stark mit Vorurteil und Mißtrauen gesprenkelt war. Man pflegt doch zu sagen: »Wie der Herr, so seine Knechte!« Aber da kam eine seltsame Überraschung.

Der erste, den ich sah – er war schon außer Bett, trug aber noch den Kopfverband, die deutsche Kugel hatte ihm den Backenknochen durchbohrt und war hinter dem Ohr wieder herausgeflogen –, dieser erste war einer von jenen »wilden, grausamen, tigergleichen, riesenhaft gewachsenen« Gurkhas, von denen die französischen Zeitungen verkündeten, daß sie uns Deutsche so unbarmherzig in der Luft zerreißen würden, wie es der Teufel mit den armen Seelen macht. Gallischer Hoffnungstraum! Geträumt von einem Enkel des Tartarin von Tarascon! Denn der tatsächliche Gurkha, der da lächelnd vor mir stand, war ein kleines, gutmütig-freundliches, knabenhaft-zierliches Männlein, in Farbe und Gestalt eine Mischung von Japaner und Negerchen; er hörte die Fragen, die der Dolmetsch Dr. Walter an ihn richtete, aufmerksam an, beantwortete sie gern und hatte in den Augen stets eine Schimmersprache, die zu sagen schien: »Seid mir gut, ich denke nichts Böses.« Sein Kamerad, auch schon außer Bett, war ein arischer Mohammedaner aus dem Himalajagebiet, gut gewachsen, grobknochig, mit heiterem Breitgesicht, von so schwacher asiatischer Couleur, daß er bei uns in Tegernsee oder Lenggries hinter der Zither oder bei der Schmarrenpfanne sitzen könnte.

Der dritte Indier, wieder so ein »wilder blutdürstiger Gurkha«, lag noch an einer schweren Verwundung durch Bombensplitter; er ließ nur das abgezehrte Gesicht und die braunen Finger mit den weißen Nägeln aus der Bettdecke herausgucken; in der Hagerkeit seines Kopfes und im ekstatischen Blick der nußbraunen Augen, die, obwohl der Mann ohne Fieber war, einen fast überirdischen Glanz hatten, glich er einem indischen Büßer; er sprach demütig, hatte eine suchende Angst in der ruhelosen heißen Fackel seines Blickes; und wenn er sich für die freundlichen Zusicherungen des Missionars bedankte, war in der rudernden Geste seiner mit den Spitzen aneinandergelegten Finger immer der Ausdruck einer inbrünstigen Bitte.

Von seinem Bette gingen wir zu einem Sikh hinüber, der nach lebensgefährlicher Malaria zu genesen begann. Ein wundervoller Rassekopf mit blauschwarzem Vollbart, die Stirne mit dem sorgfältig geknoteten Kriegertuch umwunden. Der Mann schien den Dolmetsch zu lieben; als wir an das Bett traten, glänzte eine schöne, fast zärtliche Freude in den Augen des Indiers. Er hatte geglaubt, in der Fremde sterben zu müssen, ferne von seiner Heimat, und wußte nun, daß er leben und die Ufer des heiligen Stromes wiedersehen würde. Der neu erwachende Lebensglaube erhöhte noch die angeborene Vornehmheit, die aus jedem Wortklang und aus jeder Geste dieses Sikhs herausredete. Sikh – der Laut bedeutet nicht einen Volksstamm, er bedeutet: Schüler, Anhänger einer religiösen Überzeugung, in der sich Mohammedanismus mit überwiegendem Buddhismus vermischt. Ehe wir gingen, hielt der glanzäugige Krieger lange meine Hand umschlossen und nickte mir herzlich zu. Und jener lächelnde, gutmütige Himalajasohn, der einem Tegernseer ähnelte, begleitete uns bis zum Tor des Lazaretts.

Zehn andere Indier, schon völlig genesen, fanden wir an einem sonderbaren, von ihnen selbst gewählten Aufenthalt; in einer ehemaligen Unteroffizierswaschküche der Zitadelle von Lille. Sie hatten diesen Ort gewählt, weil sie hier in Einsamkeit leben konnten, weil der Herd und sein Waschkessel es ihnen ermöglichte, ihre Nahrung nach rituellen Vorschriften zu bereiten, und weil sie hier von allem geschieden waren, was ihnen nach den Satzungen ihres Glaubens als unrein gilt.

Auf dem Weg zur Zitadelle erfuhr ich manches über ihre Art, sich zu geben. Sie sind ehrlich in Werk und Wort. Alles Tatsächliche ist von ihnen zu erfragen; Urteile über die Vorgänge des Krieges und ihre innersten Meinungen sprechen sie nicht aus. Man mußte erraten, daß es ihr Wunsch ist: nach dem Friedensschlusse nicht mehr an die Engländer ausgeliefert zu werden. Heimweh in unserem Sinne scheinen sie nicht zu kennen; sie haben nur den Wunsch, noch einmal im Leben eine Wallfahrt zu ihrem Lieblingstempel machen zu dürfen.

Ein stubengroßer Raum, die Decke weiß getüncht, die Wände mit schwarzer Teerfarbe übermalt. Zehn kraftvolle Gestalten erhoben sich höflich und begrüßten uns. Alle waren gleichmäßig in das Graubraun der indischen Felduniform gekleidet, ein paar mit wollenen Mützen, andere mit dem turbanartigen Kopftuch des Kriegers, und einer mit einem deutschen Liebesgabenkopfschlauch, der, mit der Gesichtsöffnung über den Hinterkopf gestülpt, sehr wunderlich gerollt war und viel orientalischer aussah als die echten Kopfbedeckungen der anderen. Allen gemeinsam war der Feuerglanz der herrlichen, frauenhaften Augen und das weiße Elfenbeinblitzen des festen, tadellosen Gebisses in dem braunen, fast immer heiteren Gesicht – allen gemeinsam auch eine liebenswürdige, noble Gelassenheit, ein zutraulicher Frohsinn und der natürliche Adel einer alten Menschenrasse, an der keine Spuren von Degeneration, nur entwicklungsfähige Eigenschaften zu bemerken sind, die zum Glauben an einen Aufstieg dieses Volkes berechtigen. In ihrer äußeren Erscheinung waren sie sehr verschieden. Einer, von jenem mongolischen Typus, der auch Schönheit in unserem Sinne besitzt, hatte einen Jünglingskopf von so klassischem Oval und mit so streng gezeichnetem Schwarzbärtchen, daß ich immer an den Märchenprinzen Kalaf denken mußte. Ein zweiter erinnerte an jene delikaten persischen Miniaturen aus der Zeit, in der das Heldenbuch des Firdusi geschrieben wurde. Ein anderer, schon fünfzigjährig, mit einem kurzgestutzten schneeweißen Vollbart, der Sprößling einer alten Unteroffiziersfamilie der indischen Armee, war von derberem Volksschlag, dabei so ruhig, selbstbewußt und abgeklärt, daß man ihn als einen Bruder von Anzengrubers Steinklopferhans hätte nehmen können. Einer, mit phantastisch geformtem Schwarzbart und mit üppig gezopfter, aus dem Kriegertuch hervorquellender Haarfülle, hatte im Aussehen wirklich etwas Asiatisch-Wildes – und war dabei von allen der gutmütigste und freundlichste. Und einer, größer als ich, ein junger schlanker Sikh, war von geradezu verblüffender männlicher Schönheit – war, was man ein Fressen für einen Maler oder Bildhauer nennt – und gab sich so bescheiden, hatte eine so reizvoll verlegene Schüchternheit wie ein Mädchen mit zartbesaiteter Seele.

Die Indier standen mit verschränkten Armen oder saßen mit gekreuzten Beinen um das sehr heiße Herdchen herum, an dessen glühenden Kohlen sie Obst und Kartoffeln brieten. Der Dolmetsch stellte mich ihnen – (jetzt dürfen meine Leser nicht lachen!) – als einen »Weisen meiner Heimat«, als einen Brahmanen des deutschen Volkes vor. Gleich nahm einer von den Indiern, auch ein Brahmane, die charakteristische Buddhastellung ein, erhob den Zeigefinger der linken Hand und überreichte mir, seinem fremdländischen Kastenbruder, mit würdevoller Freundlichkeit als Gastgeschenk eine deutsche Liebesgabenzigarre. Ich bot zum Gegengeschenk mein Zigarrenetui herum. Rauchend saßen wir um den schwelenden Herd, der mich schwitzen machte, und der Dolmetsch begann die Unterhaltung. Als ich das Alter des fünfzigjährigen Weißbartes erfahren hatte – ich glaubte jünger auszusehen als er –, ließ ich ihn fragen, für wie alt er mich hielte. Er betrachtete mich aufmerksam und sagte: »Gegen dich bin ich ein Jüngling, du bist zehn Jahre älter als ich.« Da das letztere stimmte, konnte ich gegen das erstere nichts einwenden.

Bei dem Verhör, das nach ihrer Einbringung mit ihnen vorgenommen worden war, hatten sie übereinstimmend ausgesagt: sie wären eingeschifft worden, ohne den Zweck und das Ziel der Reise zu kennen; während der Fahrt erfuhren sie, man hätte sie in Ägypten nötig; dann hieß es, die Reise ginge nach Malta; und im Mittelländischen Meer sagte man ihnen, daß England von den Deutschen in hinterlistiger und treuloser Weise mit Krieg überfallen worden wäre, und daß sie als redliche Söhne Indiens der Mutter Britannia tapfer beispringen müßten. Und jeder müsse sich hüten, lebendig in die Hände der Deutschen zu geraten, denn die Deutschen martern die gefangenen Feinde, zwingen sie, Schweinefleisch und andere unreine Dinge zu essen, stechen ihnen die Adern auf und schneiden ihnen die Hälse ab. Um sich vor solchem Schicksal zu bewahren, hatten sie gekämpft bis zum Versagen ihrer Kräfte, mit Messer und Zähnen. Die Wahrheit, die sie bei der sorgfältigen Pflege der deutschen Ärzte erkannten, hatte in ihnen ein frohes Staunen geweckt, hatte sie heiter, zutraulich und vertrauensvoll gemacht. Ich ließ sie fragen, wie sie jetzt über die Mutter Britannia dächten? Die Indier schwiegen. Unter allen guten und liebenswürdigen Zügen, die ich an ihnen beobachtet hatte, gefiel mir dieses vornehme Schweigen am besten. Dann sagte der schöne junge Sikh, mit einer heißen Erregung im braunen Gesicht: »Wir haben den Fahneneid geschworen.«

Beim Abschied reichte mir jeder freundlich die Hand. Und was ich in der Waschküche der Zitadelle von Lille erlebt hatte, gab mir zu denken. Läßt sich von den zehn Männern, die ich da kennen lernte, ein Schluß auf die menschlichen Werte der Millionen ihrer Brüder ziehen, so sind die Indier ein Volk, dem eine bessere, eine freie Zukunft kommen wird und kommen muß.

Als ich von der stillen Zitadelle dem Lärm der Stadt entgegenwanderte, hörte ich aus der nördlichen Ferne den Donner englischer Geschütze. Das war ein Geräusch von unanzweifelbarem Wahrheitscharakter. Man muß gerechterweise zugeben: wenn die Engländer ihre Kanonen reden lassen, lügen sie nicht! Vielleicht kommt das von der Tatsache, daß sie in großen Quantitäten neutrales Pulver beziehen.

An einem der nächsten Tage werde ich bei Hollebeke und Ypern ihre Stellungen sehen. Und heute erfuhr ich noch, daß der englische General einer indischen Brigade, als von deutschen Flugzeugen die Verkündigung des Heiligen Krieges herabgeflattert war, an die mohammedanischen Indier seiner Truppe einen Tagesbefehl des Inhalts erließ: »Es gibt keinen Heiligen Krieg. Die Deutschen sind Betrüger und Lügner. Ihr werdet mit Verachtung auf sie herabsehen, wie der Kluge auf den Dummen!«

Ob dieser wahrheitsliebende General nicht eine Nachblüte des edlen Sir John Falstaff ist, der in England nach glaubwürdigem Zeugnis viele, viele Kinder seines Geistes hinterließ?

2

8. März 1915.

Lille ist eine schmucke Stadt, obwohl sie gegenwärtig mit etwas forcierten Kontrasten wirken muß: neben dem Prunkbau der neuen Oper liegt das Trümmergewirre eines völlig zusammengeschossenen und niedergebrannten Häuserviertels. Das Liller Leben hat sich vom Schreck schon erholt und flutet lärmend an diesen Schuttstätten vorüber. An einer Straßenecke sah ich einen Menschenauflauf und hörte Witzworte, die bei den Franzosen lautes Gelächter weckten. Ein Maueranschlag – die Übersetzung des deutschen militärischen Tagesberichtes – verkündete den Lillern die Niederlage der Franzosen in der Champagne. »Deutsche Lügen, natürlich!« So gehirnschwächlich sind die Liller nicht, um so was zu glauben! Nichts glauben sie, gar nichts, wenn es von den Deutschen kommt. Aber wenn sie zuweilen eine eingeschmuggelte Nummer des »Matin« oder »Temps« erwischen, dann wird sie hundertmal abgeschrieben, und man kolportiert in Lille dieses verläßliche Evangelium der historischen Tatsachen um zwei und drei Franken pro Exemplar.

Erbitterte Feinde? Nein! Das sind törichte, unzurechnungsfähige Kinder, die man mit einiger Nachsicht beurteilen muß – aber nicht mit Nachlaß der Taxen. Denn manchmal gewinnen die Unüberlegtheiten der Liller ein bedenkliches Aussehen. In ihrem athletenhaften gallischen Optimismus prophezeiten sie seit Monaten in jeder Woche für irgendeinen Tag einen großen Angriff und Sieg der Franzosen, den Entsatz ihrer Stadt und die Verjagung der Deutschen. Auch für den 3. März lief in Lille eine solche Prophezeiung um. Sie erfüllte sich auch, nur mit vertauschten Rollen. Die Deutschen griffen an, eroberten bei Arras mehrere Schützengräben und machten gegen sechshundert Gefangene. Sie wurden durch die Straßen von Lille zum Bahnhof geführt, um Deutschland zu bereisen. Die Liller verwechselten Niederlage und Sieg, umjubelten, beschenkten und küßten die Gefangenen, zeigten die französischen Farben und riefen: »Vive la France!« Viele, die sich beim Anblick einiger hundert Rothosen der starken deutschen Besatzung von Lille nicht mehr erinnerten, riefen auch: »À bas l'Allemagne!« Ich besorge, das wird ihnen Kosten verursachen.

Mit eigenen Augen hab' ich diese Begriffsverwirrung der Liller nicht gesehen. Ich war am Abend des 3. März nach Süden davongefahren, über Douai gegen Bapaume. In einem fast völlig in Trümmer geschossenen Dorfe und unter einem von Granaten durchlöcherten Dache kam ein warmer, gemütlicher Abend im Kreise preußischer Offiziere. Man plauderte von der Heimat, bekam das Gefühl, daß man heimatlich beisammen wäre, und vergaß für ein paar fröhliche Stunden aller Schatten des Krieges, obwohl man immer das Gebrumm der Kanonen hörte. Nach kurzer Nachtruhe in einem Bauernstübchen, darin jede Wand und jedes Möbelstück vom Einschlag der Schrapnellkugeln getüpfelt war, ging es um sechs Uhr morgens hinaus in die graue Dämmerung, deren verziehende Nebel einen schönen Tag zu verheißen schienen.

Zerstörung und Vernichtung zu beiden Seiten unseres Weges. Die Straße selbst ist zerrissen von Granatenlöchern. Und die Alleebäume sind zersplitterte Stümpfe. Jetzt kommt ein Dorf – nein, nur eine Sache, die so aussieht, als wär' das einmal ein schönes und reiches Dorf gewesen! Nicht die deutschen, sondern die französischen Geschütze haben diese Verwüstung angerichtet. Es steht keine ganze Mauer und kein Dach mehr. Unsere Reserven wohnen da in den Kellerlöchern; die Schuttberge, die über den Gewölben liegen, sind ihr Granatenschutz.

Noch umhüllen die Schleier des frühen Morgens diese sprachlose Heimat des Schreckens; der Frühwind, wenn er stärker strömt, trägt aus den öden, von Steinbrocken übersäten Gärten und aus einem Gewirre zersplitterter Obstbäume den Übelduft der Verwesung her. Und manchmal sieht man hinter diesen Hecken einen formlosen Klumpen liegen, der früher einmal ein Pferd oder eine Kuh gewesen.

Der Ausgang der Dorfstraße ist im Zickzack mit Barrikaden gesperrt, die aus Lehmsäcken, Karrenfragmenten, Eggen, Pflugscharen, Mähmaschinen, Hausgerät und Wagenrädern gebaut sind. Aus allen Mauerresten der eingestürzten Häuser lugen die Schießscharten wie starre, schwarze Augen heraus, und gleich den Werken einer im Gehirne von Wahnsinnigen entsprungenen Gartenkunst erhebt und verschlingt sich das Wirrsal der Drahthindernisse und zieht sich in unbegreiflichen Formen gegen die Felder hin. Noch hört man keinen Kanonenschuß, nur jenes schlummerlose Gewehrgeknatter, das nicht Kampf ist, sondern Wachsamkeit – es ist wie das Ticken von vielen großen Uhren; jede will ihre Pflicht tun, keine will stehen bleiben.

Der Schützengraben, in den wir hinter einem Wall von Sandsäcken mit geduckten Köpfen hinuntersteigen – der Oberst von Z., der mich führt, und der sich bei der Eroberung dieses zum Schutthaufen gewordenen Dorfes das Eiserne Kreuz erster Klasse holte, ist so hochgewachsen, daß er jetzt zwei Stunden lang immer den Nacken beugen muß – dieser Schützengraben gleicht den anderen, die ich schon gesehen habe, und dennoch hat auch er wieder sein eigenes Gesicht. Er ist besetzt mit Feldgrauen aus der preußischen Provinz Sachsen, mit Magdeburgern und Hallensern. Das Aussehen dieser Mannschaften ist ebenso gesund und frisch, wie ich es bei den munteren Lehmfischen gefunden, von denen ich schon erzählte; und nicht minder heiter sind sie, nur ist die Art ihres heimatlichen Humors eine anders gefärbte, ist stiller, im Worte sparsamer, knapper im Ton. Auch hier die gleiche deutsche Soldatensehnsucht, dieses Leben im wässerigen Brei erträglicher zu machen, ihm ein bißchen Schönheit zu geben. Ein Unteroffizier – in seinem Zivilstand ist er Berufsjäger – hat sich mitten im Schlamm aus Backsteinen ein sauber gefügtes Hüttchen gebaut und hat es »Schloß Hubertus« getauft. Nette Kapellchen sind in die Lehmwände eingenistet, und die dem Feinde abgewendeten Ränder des Schützengrabens sind mit frischem Grün bepflanzt, mit Buchs, Efeu und Schneeglöckchen, von denen einzelne Stücke schon zu blühen beginnen. Man fühlt: dieser freundliche Schmuck der deutschen Kampfstätten wächst aus ruhigem Glauben an das Leben heraus und kommt aus unverwüstlicher Frühlingshoffnung, aus zuversichtlichem Erharren des deutschen Sieges!

Auch hier wieder die Kontraste der pietätvoll gezierten deutschen Soldatengräber und der in Regen und Sonne verwesenden Franzosenleichen, die, unbeerdigt, von ihrer Heimat festgehalten, aber von ihrem Volk verlassen, als zermürbte Mißform zwischen den Schützengräben liegen. Ein junger Offizier, der mir von einer harten, aber siegreichen Sturmnacht berichtet, zeigt mir in einer von Streifschüssen durchfächerten Wiesenmulde viele von diesen blaubraunen, schon nimmer menschenähnlichen Klumpen, deutet auf den uns zunächst liegenden und sagt: »Als alle, die den Angriff gegen uns versuchten, schon gefallen waren, ist der noch wie ein Baum bis zuletzt gestanden. Es war ein Jammer, daß wir den braven Kerl haben totmachen müssen.« Um seiner Tapferkeit willen versuchten es die Deutschen, ihn zu begraben – die Franzosen ließen es nicht geschehen; sie schossen. –

Der Morgenhimmel hat sich geklärt. Es ist hell geworden und die Sonne kommt. Ihre warme, goldene Riesenhand streichelt zärtlich über die kahlen Felder hin, die wie leblos erscheinen, obwohl hinter ihren Erdrunzeln der Herzschlag eines tausendfältigen Lebens hämmert – und zärtlich streichelt das wachsende Sonnenlicht die Köpfe unserer Feldgrauen bei den Schießscharten, streichelt aber auch ebenso zärtlich die nur noch schwach an Menschen erinnernden Klumpen, die unbeweglich da draußen liegen auf dem goldfarbenen Acker und die warme Liebkosung der ewigen Lebensmutter nimmer fühlen. Eine große, bewundernswerte Philosophin ist sie, in ihrem Glanz da droben! Ohne Unterschiede zu machen, sieht sie alle Dinge der Erde barmherzig und hilfreich an, Freund und Feind ist für sie nur ein einziges Wort! – Und wir Menschen? Was tun wir um einiger Buchstaben willen? –

Immer lebhafter knallen die Gewehrschüsse über die unabsehbare Zeile der Schützengräben hin. Inmitten dieses harten Geknatters hört man von der nur hundertfünfzig Meter entfernten feindlichen Stellung ein kurzes, wirres Geschrei. Hat eine deutsche Kugel da drüben einen Stahlschild durchbohrt? Ist sie durch eine Scharte geflogen, aus der ein feindliches Auge spähte? Fiel da drüben einer? Das sind Gedanken, die nicht ausgesprochen werden. Niemand stellt eine Frage; so braucht auch keiner zu antworten. Die Schüsse knallen, immerzu, immerzu. Es scheint, als wäre das stählerne Geklapper ein bißchen schneller geworden. Nun verzögert es sich wieder. Und linde Sonnenstrahlen schmeicheln sich in die kühle Feuchtigkeit des Grabens herein, dessen Lehmwände fein zu dampfen beginnen.

Da klingen menschliche Stimmen – ganz deutlich hört man's über die hundertfünfzig Meter herüber – fünf oder sechs Männerstimmen zählen unisono: »Un, deux, trois!« – das letzte Wort hat einen stärkeren Klang – und dann rollt über den feindlichen Erdwall ein dunkelblauer Klumpen herüber, sieht aus wie ein Mensch mit schlaffen Armen und Beinen, kollert gegen den Acker hin und bleibt da liegen wie ein Pfahl, der von einem Soldatenmantel umwickelt ist.

Das haben viele von den Unseren gesehen. Und nicht nur dieses eine Mal! Ich kann's nicht begreifen – seit ich die Fürsorge französischer Ärzte für die ihrer Pflege anvertrauten Verwundeten gesehen habe, versteh ich diese Pietätlosigkeit der französischen Soldaten gegen ihre gefallenen Kameraden noch weniger als zuvor.

Während ich durch den Schützengraben hinwandere, begleitet von dem harten Geknatter, klingen immer wieder diese drei schrecklichen Worte in mir nach: »Un, deux, trois!« Um sie auszulöschen, erwecke ich gegensätzliche Bilder in mir und erinnere mich jeder Freundlichkeit, die ich von der einheimischen Bevölkerung hier erfahren habe, erinnere mich jedes gefälligen Zuges, den ich an ihnen wahrgenommen. Noch in jedem Quartier, das ich, seit meinem ersten Schritt über die Grenze, hier auf französischem Boden bewohnte, fand ich gute Aufnahme, vielleicht nicht immer ehrliche Worte, aber doch immer ehrliche und liebenswürdige Dienstwilligkeit. Hier in Lille, im Haus einer alten französischen Dame, hab' ich auch herzliche Güte gefunden. Als ich zwei Tage lang mit einem Schützengraben-Rheumatismus die Stube hüten mußte, wurde ich von den Hausleuten mit wahrhaft rührender Aufmerksamkeit gepflegt. Zwanzigmal des Tages kam die gute alte Frau, um zu fragen, ob ich einen Wunsch hätte, oder um nachzusehen, ob das Fenster gut geschlossen und das Kaminfeuer in behaglichem Brand wäre. Und die Söhne solcher Mütter zählen im französischen Schützengraben: »Un, deux, trois!« Wie soll man's verstehen? Man wird da, im Quartier und Feld, bei der Beurteilung des französischen Volkes immer hin und her geworfen zwischen freundlichem Glauben und hartem Groll, zwischen wühlendem Zorn und herzlichem Empfinden. Wer sagt mir, was da das Richtige ist? Ich weiß es nicht. Wie schwer es ist, gerecht zu sein, das wußte ich zeit meines Lebens. Jetzt, hier in Frankreich, bei allem Wechsel und Gewirre von dunklen und hellen Bildern, beginne ich fast zu glauben, daß Gerechtigkeit im reinsten Sinne des Wortes eine der menschlichen Natur versagte Eigenschaft ist. Was wir Gerechtigkeit nennen, ist ein Zwitterkind von Haß und Liebe, wenn diese beiden einander die Wagschale halten.

Wahrhaft gerecht ist nur die Sonne.

Schön und strahlend, die lächelnde Mutter eines klaren, eines wundervoll milden Frühlingsmorgens, steigt sie über den blauen, wolkenlosen Himmel empor. Wolkenlos? Nein! Überall puffen schon wieder die kleinen weißen Himmelsschäflein der Schrapnellgeschosse auf, die hinter einem Flieger hertasten. Immer dröhnt und knattert es. Auch die gröberen Kaliber der feindlichen Geschütze rühren sich – es ist halb neun Uhr vorüber, die Franzosen haben gefrühstückt – und immer näher brüllen die Granatenschläge. Aber alle die zerrissenen Bäume und Hecken des gestorbenen Dorfes funkeln von Sonne, um alle Ruinenzähne und Dachstumpen webt sich ein feines Geglitzer, und wo die verwesenden Viehkadaver liegen und auseinanderfließen wie abscheuliche Käslaibe im letzten Stadium ihres Daseins, da blühen Schneeglöckchen und Gänseblümchen und Aurikeln.

Ein ohrzerreißender Donner dröhnt hinter einer Hausruine, die nur fünfzig Meter von uns entfernt liegt. Rauch wirbelt auf, Dreck fliegt empor und Steine spritzen. Ein sonderbarer Geruch. Und eine verkohlte Mauer, die da drüben gestanden, fällt langsam und ohne viel Lärm in sich zusammen. Eine feste deutsche Offiziershand faßt meinen Arm: »Wir müssen gehen. Ich bin verantwortlich.« Da hilft keine Bitte. Und kaum sind wir ein paar hundert Schritte weit gekommen, so geht hinter uns ein Gedonner los, wie wir's im Frieden manchmal erleben können beim Schlußeffekt eines festlichen Feuerwerkes. Die Feldgrauen nennen diese lärmende Sache »das tägliche Morgenbrot«. Und seit die Franzosen ihr Quantum amerikanischer Munition gefaßt haben, verabreichen sie dieses Frühstück in reichlichen Portionen. Vor und hinter dem deutschen Schützengraben wachsen ganze Alleen von Rauchbäumen, die sich in Dunsthecken verwandeln. Das kostet viel und macht nur geringen Schaden. Drum antworten unsere Geschütze nur ab und zu mit einer von den belgischen Granaten, die wir billig bekommen.

Ich schaue zurück. Die Ruinen des Dorfes sind umschleiert von Staub und Rauchgewirbel.

Über den Kamm einer Feldhöhe müssen wir flink hinüberspringen. Dann sind wir wieder in dem Dorf, in dem ich übernachtete. Es ist noch leidlich erhalten, obwohl schon zahlreiche Dächer fehlen. Im Hof eines Bauernhauses sehe ich eine merkwürdige Sache liegen: eine große, viele Zentner schwere Kirchenglocke. Auf meinen fragenden Blick zeigt mir der führende Offizier einen gewaltigen Trümmerhaufen, so formlos, daß ich nimmer zu erkennen vermag, was da in Schutt versank. Dieser Berg von Steinen, von Staub und Mörtel, war einmal eine schöne französische Kirche. Nachdem die Deutschen das Dorf erobert hatten, richteten die Franzosen dieses, ihr eigenes Gotteshaus so zu, daß man die Ruine sprengen mußte, wenn nicht durch den drohenden Einsturz deutsche Soldaten erschlagen werden sollten. Vor der Sprengung bargen die Deutschen mit Lebensgefahr alle Kirchengeräte und übergaben sie dem Pfarramt des Nachbardorfes. Aus dem Schutthaufen des Turmes gruben sie auch noch die große Glocke heraus und rollten sie bis zum Gehöft des Bürgermeisters. – Wo bleiben die Proteste der Herren Spitteler und Hodler? Den beiden sollte man eine Freifahrt nach Roye gewähren, wo die Engländer eine alte, herrliche Kathedrale völlig zwecklos ohne militärische Notwendigkeit in ein steinernes Sieb verwandelten, nur aus dem einzigen Grunde: weil sie so miserabel schossen, daß sie wohl immer wußten, wohin sie zielten, aber nie, wohin sie trafen.

Eine jagende Heimfahrt über das von Sonne schimmernde Land. Schon umdunstet sich der Westen wieder, alles Leuchtende verschwindet und der Wind wird rauh. Ehe die huschenden Regenschleier die ganze Ferne umhüllen, seh' ich für einige Minuten die Türme von Arras herauftauchen und sehe das von Erdwällen durchschnittene Kampfgelände, wo fast jede Bodenscholle für einen kommenden Frühling mit Blut gedüngt ist, mit deutschem Blut und noch mehr mit feindlichem. Die schon im Grau verschwindenden Hügel da drüben? Das ist die Stätte des deutschen Sieges vom 3. März. Dort wurden die Sechshundert gefangen, denen die Bewohner von Lille in einer halb tragischen und halb grotesken Verwechslung der Begriffe so glückselig zujubelten, als wäre Frankreich erlöst und gerettet. Dieses Ereignis bekam noch ein sonderbares, für die Lage der Dinge sehr charakteristisches Nachspiel. Am Tage nach dem für die Deutschen siegreichen Gefechte stellten sich bei einem von unseren Schützengräben sechsundzwanzig mongolische Überläufer vom Stamme der Afridi ein. Das ist der kriegstüchtigste unter den asiatischen Gebirgsstämmen des britischen Weltreiches. Die Männer dieses Stammes lieben nichts auf der Welt so heiß und begehrlich wie eine gute Waffe. Für ein scharfschießendes Gewehr und eine feste Stahlklinge geben sie Haus und Weib als Kaufpreis. Und nun kamen diese Sechsundzwanzig, ergaben sich den Deutschen und sagten dem Dolmetsch: sie hätten erkannt, daß die deutschen Waffen besser wären als die englischen und französischen; man solle ihnen diese herrlichen deutschen Lanzen, Schwerter und Gewehre geben, dann würden sie mit diesen siegreichen Waffen für Deutschland fechten!

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