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Триумфальная арка / Arc de Triomphe

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Эрих Мария Ремарк / Erich Maria Remarque
Триумфальная арка / Arc de Triomphe

Адаптация текста, комментарии, упражнения и словарь С. А. Матвеева

© 1963, 1988, 1998, 2017 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Cologne/ Germany;

© Беляева О. С., адаптация текста, комментарии и словарь, 2018

© ООО »Издательство АСТ«, 2018

1

Die Frau kam auf Ravic zu. Sie ging schnell. Ravic bemerkte sie erst, als sie fast neben ihm war. Er sah ein blasses Gesicht mit hochliegenden Wangenknochen und weit auseinanderstehenden Augen. Das Gesicht war maskenhaft.

Die Frau streifte ihn beinahe, so dicht ging sie an ihm vorüber. Im nächsten Augenblick schwankte sie und wäre gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte. Er hielt ihren Arm fest. «Wo wollen Sie hin?» fragte er nach einer Weile.

Die Frau starrte ihn an. «Lassen Sie mich los», flüsterte sie.

Ravic erwiderte nichts. Er hielt ihren Arm weiter fest.

«Lassen Sie mich los! Was soll das?»

Die Frau bewegte kaum die Lippen. Ravic hatte den Eindruck, daß sie ihn gar nicht sah. Sie blickte durch ihn hindurch, irgendwohin in die leere Nacht. Sie war nicht betrunken. Er hielt ihren Arm nicht mehr sehr fest.

«Wo wollen Sie wirklich hin, nachts, allein, um diese Zeit in Paris?» sagte er dann noch einmal ruhig und ließ ihren Arm los.

Die Frau schwieg.

«Dahin vielleicht?» Er deutete mit seinem Kopf auf die Seine.

Die Frau antwortete nicht. «Zu früh», sagte Ravic. «Zu früh und viel zu kalt im November.»

Er zog ein Päckchen Zigaretten hervor.

«Geben Sie mir auch eine Zigarette», sagte die Frau mit tonloser Stimme.

Ravic zeigte ihr das Päckchen.«Schwarzer Tabak. Wahrscheinlich zu stark für Sie. Ich habe keine anderen bei mir.»

Er sah die Frau an. Worum hatte er sie eigentlich angehalten? Es war etwas mit ihr los, das war klar. Aber was ging es ihn an? Er hatte schon viele Frauen gesehen, mit denen etwas los war, besonders nachts, besonders in Paris, und es war ihm jetzt egal, und er wollte nur noch ein paar Stunden schlafen.

«Gehen Sie nach Hause», sagte er. «Was suchen Sie um diese Zeit noch auf der Straße?»

Er schlug seinen Mantelkragen hoch. Die Frau sah ihn an, als verstände sie ihn nicht. «Nach Hause?» wiederholte sie. Wieder einmal jemand, der nicht wußte, wohin er sollte, dachte Ravic. Er hätte es voraussehen können. Es war immer dasselbe. Nachts wußten sie nicht, wohin sie sollten, und am nächsten Morgen waren sie verschwunden, ehe man erwachte. Dann wußten sie wohin. «Kommen Sie, wir gehen irgendwo noch einen Schnaps trinken», sagte er.

Sie gingen die Avenue Pierre I. de Serbie. Ravic deutete auf einen schmalen Eingang, der in ein Kellerloch führte. «Hier – da wird es schon noch etwas geben.»

Es war eine Chauffeurkneipe. Ein paar Taxichauff eure und ein paar Huren saßen darin. Die Chauff eure spielten Karten. Die Huren tranken Absinth. Sie musterten die Frau mit raschem Blick. Dann wandten sie sich gleichgültig ab. Ravic setzte sich mit der Frau an einen Tisch neben dem Eingang. Es war bequemer; er konnte dann rascher weggehen. Er zog seinen Mantel nicht aus.

«Was wollen Sie trinken?» fragte er.

«Ich weiß nicht. Irgend etwas.» «Zwei Calvados», sagte Ravic dem Kellner.

«Und ein Paket Chesterfield-Zigaretten.»

«Haben wir nicht», erklärte der Kellner.

«Nur französische.» «Gut. Dann ein Paket Laurens grün.»

«Grün haben wir auch nicht. Nur blau.»

Der Kellner brachte die Gläser und eine Schachtel Zigaretten.

«Laurens grün. Fand noch eine» Ravic reichte der Frau ein Glas hinüber.

«Hier, trinken Sie das. Es ist das beste um diese Zeit. Oder wollen Sie Kaffee?»

«Nein.»

Die Frau trank das Glas aus. Ravic betrachtete sie. Sie hatte ein ausgelöschtes Gesicht, fast ohne Ausdruck. Der Mund war voll, aber blaß, die Konturen schienen verwischt, und nur das Haar war sehr schön, von einem leuchtenden, natürlichen Blond. Sie trug eine Baskenmütze und unter dem Regenmantel ein blaues Schneiderkostüm. Das Kostüm war von einem guten Schneider gemacht, aber der grüne Stein des Ringes auf ihrer Hand war viel zu groß, um nicht falsch zu sein.

«Wollen Sie noch einen?» fragte Ravic.

Sie nickte. Er winkte dem Kellner. «Noch zwei Calvados. Aber größere Gläser.»

«Größere Gläser? Auch mehr drin?»

«Ja.»

«Also zwei doppelte Calvados.»

Er langweilte sich und war sehr müde. Er hatte vierzig Jahre eines wechselvollen Lebens hinter sich. Er lebte seit einigen Jahren in Paris. Der Kellner brachte die Gläser. Ravic nahm den aromatisch riechenden Apfelschnaps und stellte ihn vor die Frau. «Trinken Sie das noch. Es hilft nicht viel, aber es wärmt. Und was Sie auch haben – nehmen Sie es nicht zu wichtig. Es gibt wenig, das lange wichtig bleibt.»

Die Frau sah ihn an. Sie trank nicht.

«Es ist so», sagte Ravic. «Besonders nachts. Die Nacht übertreibt.»

Die Frau sah ihn noch immer an. «Sie brauchen mich nicht zu trösten», sagte sie dann. «Um so besser.»

Ravic sah nach dem Kellner. Er hatte genug. Er kannte diesen Typ. Wahrscheinlich eine Russin, dachte er.

«Sie sind Russin?» fragte er.

«Nein.»

Ravic zahlte und stand auf, um sich zu verabschieden. Im gleichen Augenblick stand die Frau auch auf. Sie tat es schweigend und selbstverständlich. Ravic sah sie an. Gut, dachte er, ich kann es auch draußen tun. Es hatte angefangen zu regnen. Ravic blieb vor der Tür stehen.

«Wo wohnen Sie denn?»

Die Frau machte eine schnelle Bewegung. «Dahin kann ich nicht! Nein! Das kann ich nicht! Nicht dahin!» Ihre Augen waren plötzlich voll von Angst.

«Kennen Sie nicht irgend jemand, zu dem Sie gehen können? Eine Bekannte? Sie können in der Kneipe telefonieren.»

«Nein. Niemand.»

«Aber Sie müssen doch irgendwohin. Haben Sie kein Geld für ein Zimmer?»

«Doch.»

«Dann gehen Sie in ein Hotel. Es gibt hier überall welche in den Seitenstraßen.» Die Frau antwortete nicht.

«Irgendwohin müssen Sie doch», sagte Ravic ungeduldig. «Sie können doch nicht im Regen auf der Straße bleiben.»

«Sie haben recht», sagte sie.

«Sie haben ganz recht. Danke für alles.»

Sie sah Ravic an und versuchte ein Lächeln. Dann ging sie fort durch den Regen.Ravic stand einen Augenblick still. Er dachte, daß er die Frau nicht allein lassen muss. Er folgte ihr. «Kommen Sie mit», sagte er unfreundlich. Sie gingen zusammen. Er ging rschnell. Er war zu müde, um zu denken. Sie folgte ihm schweigend. Obwohl er nichts von ihr wußte, fühlte er, dass sie ihm nah ist.

Ravic wohnte in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße der Avenue Wagram, hinter der Place des Ternes. Es war ein ziemlich baufälliger Kasten, an dem nur eines neu war: das Schild über dem Eingang mit der Inschrift : «Hotel International.» Er klingelte.

«Habt ihr noch ein Zimmer frei?» fragte er den Jungen, der ihm öffnete. Der Junge sah ihn verschlafen an.

«Der Concierge ist nicht da», sagte er dabei verstand er nicht, wozu er noch ein zweites Zimmer wollte.Ravic gab dem Jungen ein Trinkgeld und nahm seinen Schlüssel.

«Sie können bei mir bleiben», sagte er.

«Nur einen Augenblick …»

«Sie können hier schlafen. Das ist das einfachste.»

Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie bewegte langsam, fast automatisch den Kopf.

«Sie hätten mich auf der Straße lassen sollen. Jetzt … ich glaube, ich kann jetzt nicht mehr.»

«Das glaube ich auch. Sie können hier bleiben und schlafen. Das ist das beste. Morgen werden wir dann weitersehen.» Die Frau sah ihn an.

«Ich will Sie nicht …»

«Mein Gott», sagte Ravic.

«Sie stören mich wirklich nicht. Es ist nicht das erstemal, daß jemand hier über Nacht bleibt, weil er nicht weiß, wohin. Das ist hier ein Hotel. Da kommt so etwas fast jeden Tag vor. Sie können das Bett nehmen. Ich werde auf dem Sofa schlafen. Ich bin das gewohnt.»

Ravic nahm er eine Decke und ein Kissen von seinem Bett und schob einen Stuhl neben das Sofa. Er holte einen Bademantel und hängte ihn über den Stuhl.

«So», sagte er, «das kann ich Ihnen geben. Wenn Sie wollen, können Sie auch einen Pyjama haben. Ich werde mich nun nicht mehr um Sie kümmern. Sie können das Badezimmer jetzt haben. Ich habe hier noch zu tun.»

Die Frau schüttelte den Kopf. Ravic legte das Kissen in die Ecke des Sofas. «Das ist für den Kopf. Der Stuhl hier, damit Sie nicht fallen, wenn Sie schlafen.»

Er schob ihn gegen das Sofa. Er half ihr naβe Schuhe auszuziehen und zog ihr wollene Strümpfe über.

«Danke», sagte die Frau.

«Danke.»

Ravic ging ins Badezimmer.Er betrachtete sich im Spiegel. Prüfende Augen, ein schmales Gesicht, todmüde. Das Telefon klingelte. «Verdammt!» Er hatte eine Sekunde alles vergessen gehabt.

«Ich komme», rief er. Er hob den Hörer ab. «Was? Ja. Gut … ja … natürlich, ja … es wird gehen … ja. Wo? Gut, ich komme sofort. Heißen Kaff ee, starken Kaff ee … ja …»

Er legte den Hörer zurück und blieb ein paar Sekunden nachdenklich auf demSofa sitzen. «Ich muß fort», sagte er dann. «Eilig.

«Sie können hierbleiben. Schlafen Sie. Ich muß weg für ein, zwei Stunden; ich weiß nicht, wie lange. Bleiben Sie nur hier. Die Frau würde nicht stehlen. Sie war nicht der Typ. Es war auch nicht viel da zu stehlen.

Er war schon an der Tür, als die Frau fragte: «Kann ich mitgehen?»

«Nein, unmöglich. Bleiben Sie hier. Nehmen Sie, was Sie noch brauchen. Das Bett auch, wenn Sie wollen. Kognak steht drüben. Schlafen Sie …»

Er wandte sich um.

«Lassen Sie das Licht brennen», sagte die Frau plötzlich und schnell.

«Angst?» fragte er.

Sie nickte.

«Ich wollte es sowieso nicht auslöschen. Lassen Sie es nur brennen. Ich kenne das. Habe auch mal solche Zeiten gehabt.»

An der Ecke der Rue des Acacias kam ihm ein Taxi entgegen.

«Fahren Sie vierzehn Rue Lauriston.»

2

Der kleine Operationsraum war taghell erleuchtet. Er sah aus wie eine hygienische Metzgerei. Eimer mit blutgetränkter Watte standen herum, Verbände und Tupfer lagen auf dem Fußboden. Veber saß im Vorraum an einem lackierten Stahltisch und machte Notizen; eine Schwester kochte die Instrumente aus. Nur der Körper auf dem Tisch lag ganz für sich selbst da – ihn ging das alles nichts mehr an.

Ravic ließ die flüssige Seife über seine Hände rinnen und begann sich zu waschen. Er trocknete sich die Hände ab und zündete sich eine Zigarette an. Die Schwester öffnete ein Fenster. – «Bravo, Eugenie», lobte Veber. «Immer nach der Vorschrift.»

«Ich habe Pflichten im Leben. Ich möchte nicht gern in die Luft fliegen.»

«Das ist schön, Eugenie. Und beruhigend.»

«Manche haben eben keine. Und wollen keine haben.»

«Das geht auf Sie, Ravic!» Veber lachte. «Besser, wir verschwinden. Eugenie ist morgens sehr aggressiv. Hier ist sowieso nichts mehr zu tun.»

Ravic sah sich um. Er sah die Schwester mit den Pflichten an. Sie war ein Mensch wie er, aber sie war ihm fremder als ein Baum. «Entschuldigen Sie», sagte er. «Sie haben recht.» Auf dem weißen Tisch lag das, was vor ein paar Stunden noch Leben gewesen war. Jetzt war es nur noch ein toter Körper – und der menschliche Automat, Schwester Eugenie genannt, der stolz darauf war, nie einen Fehler zu machen, deckte es zu.

«Auf Wiedersehen, Eugenie», sagte Veber. «Schlafen Sie sich aus heute.»

«Auf Wiedersehen, Doktor Veber. Danke, Herr Doktor.» «Auf Wiedersehen», sagte Ravic. – «Entschuldigen Sie mein Fluchen.»

«Guten Morgen», erwiderte Eugenie.

Es war grauer Morgen draußen. Die Müllabfuhrwagen fuhren durch die Straßen. Veber schlug seinen Kragen hoch. «Soll ich Sie mitnehmen, Ravic?»

«Nein, danke. Ich will gehen.»

«Bei dem Wetter? Ich kann Sie vorbeifahren.»

Ravic schüttelte den Kopf. «Danke, Veber.»

Veber sah ihn prüfend an. «Sonderbar, daß Sie sich immer noch aufregen, wenn Ihnen jemand unter dem Messer bleibt[1]. Sie arbeiten doch schon seit fünfzehn Jahren und kennen das.»

«Ja, ich kenne das. Ich rege mich auch nicht auf.»

Wie konnte man ihm etwas erklären und was war daran zu erklären? Ravic zündete sich eine neue Zigarette an. «Einundzwanzig Jahre war sie alt», sagte er.

«Sie haben großartig gearbeitet. Ich könnte das nicht. Daß Sie nicht retten konnten, was ein Dilettant gemacht hat, das ist etwas, was Sie nichts angeht. Wo kämen wir hin, wenn wir anders dächten?»

«Ja», sagte Ravic. «Wo kämen wir hin?»

«Nach allem, was Sie mitgemacht haben, müßten Sie doch verdammt abgehärtet sein.»

Ravic sah ihn mit einer Spur von Ironie an. «Abgehärtet ist man nie. Man kann sich nur an vieles gewöhnen.»

«Das meine ich.»

«Ja, und an manches nie.»

Veber stieg in seinen Wagen. Er startete und beugte sich aus dem Fenster. «Soll ich Sie nicht doch rasch absetzen? Sie müssen sehr müde sein.»

Wie ein Seehund, dachte Ravic abwesend. Er gleicht einem gesunden Seehund. Aber was soll das schon? Wozu fällt mir das ein? Wozu immer dieses Doppeldenken? «Ich bin nicht müde», sagte er. «Der Kaffee hat mich aufgeweckt. Schlafen Sie gut, Veber.»

Veber lachte. Seine Zähne blitzten unter dem schwarzen Schnurrbart. «Ich gehe nicht mehr schlafen. Ich gehe in meinen Garten arbeiten. Tulpen und Narzissen setzen.»

«Auf Wiedersehen, Veber», sagte er. «Ich rufe Sie abends noch an. Das Honorar wird niedrig sein, leider. Kaum nennenswert. Das Mädchen war arm und hatte anscheinend keine Verwandten. Wir werden das noch sehen.»

Ravic machte eine abwehrende Bewegung. «Hundert Frank hat sie Eugenie übergeben. Scheint alles zu sein, was sie hatte. Das waren fünfundzwanzig für Sie.»

Draußen hielt er ein Taxi an. «Fahren Sie zum ›Osiris‹.»

Die «Osiris» war ein großes, bürgerliches Bordell mit einer riesigen Bar in ägyptischem Stil.

«Wir schließen gerade», sagte der Portier. «Niemand mehr da.»

«Niemand?»

«Nur Madame Rolande. Die Damen sind alle fort.»

«Gut.»

Ravic steckte dem Portier ein Paket Zigaretten in die Brusttasche und ging durch die schmale Tür an der Garderobe vorbei in den großen Raum. Die Bar war leer, ein paar umgeworfene Stühle, Zigarettenreste auf dem Boden und der Geruch nach Tabak, süßem Parfüm und Haut.

«Rolande», sagte Ravic.

Sie stand vor einem Tisch, auf dem ein Haufen rosa Seidenwäsche lag. «Ravic», sagte sie ohne Erstaunen. «Spät. Was willst du – ein Mädchen oder etwas zu trinken? Oder beides?»

«Wodka. Den Polnischen.»

Rolande brachte die Flasche und ein Glas. «Schenk dir selbst ein. Ich muß noch die Wäsche sortieren und aufschreiben. Das Auto der Wäscherei kommt gleich. Wenn man nicht alles notiert, stiehlen die Chauffeure, verstehst du? Als Geschenke für ihre Mädchen.»

Ravic nickte. «Laß die Musik spielen, Rolande. Laut.»

«Gut.»

Die Musik donnerte mit Pauken und Schlagzeug durch den hohen, leeren Raum wie ein Sturm.

«Zu laut, Ravic?»

«Nein.»

Zu laut? Was war zu laut? Nur die Stille.

«Fertig.» Rolande kam zu Ravic an den Tisch. Sie hatte eine feste Figur, ein klares Gesicht und ruhige, schwarze Augen. Das schwarze, puritanische Kleid, das sie trug, kennzeichnete sie als Aufseherin; es unterschied sie von den fast nackten Huren.

«Trink etwas mit mir, Rolande.» «Gut.»

Ravic holte ein Glas von der Bar und schenkte ein. Rolande hielt die Flasche zurück, als das Glas halb voll war. «Genug! Ich trinke nicht mehr.»

«Du brauchst ein Mädchen», sagte Rolande. «Ich kann Kiki telefonieren. Sie ist sehr gut. Einundzwanzig Jahre alt.»

«So. Auch einundzwanzig Jahre alt. Das ist heute nichts für mich.» Ravic goß sein Glas wieder voll. «Woran denkst du eigentlich, Rolande, bevor du einschläfst?»

«Meistens an gar nichts. Ich bin zu müde.»

«Und wenn du nicht zu müde bist?»

«An Tours.»

«Warum?»

«Eine Tante von mir hat da ein Haus mit einem Laden drin. Ich habe zwei Hypotheken darauf gegeben. Wenn sie stirbt – sie ist sechsundsiebzig –, bekomme ich das Haus.Ich will dann aus dem Laden ein Café machen. Helle Wände mit Blumenmustern, eine Kapelle, drei Mann: Klavier, Geige, Cello; im Hintergrund eine Bar. Klein und gut. Das Haus liegt in einem guten Viertel. Ich glaube, daß ich es mit neuntausendfünfhundert Franks ein» richten kann, mit den Vorhängen und Lampen sogar. Dann will ich noch fünftausend Franks in Reserve haben für die erste Zeit. Und natürlich die Mieten aus der ersten und zweiten Etage. Daran denke ich.»

«Bist du in Tours geboren?»

«Ja. Aber niemand weiß, wo ich seitdem war. Und wenn das Geschäft gut geht, wird auch niemand sich darum kümmern. Geld deckt alles zu.»

«Nicht alles. Aber vieles.»

Ravic fühlte die Schwere hinter den Augen, die die Stimme langsamer machte.

«Ich glaube, ich habe genug», sagte er und zog ein paar Scheine aus der Tasche. «Wirst du in Tours heiraten, Rolande?»

«Nicht gleich. Aber in ein paar Jahren. Ich habe einen Freund da.»

«Fährst du ab und zu hin?»

«Selten. Er schreibt mir manchmal. An eine andere Adresse natürlich. Er ist verheiratet, aber seine Frau ist im Hospital.

Tuberkulose. Höchstens noch ein bis zwei Jahre, sagen die Ärzte. Dann ist er frei.» Ravic stand auf. «Gott segne dich, Rolande. Du hast einen gesunden Menschenverstand.»

Sie lächelte ohne Mißtrauen. Sie fand, daß er recht hatte. Ihr klares Gesicht war nicht eine Spur müde. Es war frisch, als sei sie gerade aufgestanden. Sie wußte, was sie wollte. Das Leben hatte keine Geheimnisse für sie.

Draußen war es heller Tag geworden. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Portier war verschwunden, die Nacht fort» gewischt, der Tag hatte begonnen.

Die Frau hat sich erschrocken, schrie aber nicht.

«Ruhig, ruhig», sagte Ravic. «Ich bin es. Derselbe, der Sie vor ein paar Stunden hergebracht hat.»

Die Frau atmete wieder. Ravic sah sie nur undeutlich. «Wollen Sie frühstücken?» fragte er. Er hatte die Frau vergessen gehabt und dann geglaubt, als er seinen Schlüssel geholt hatte, sie sei schon gegangen. Er wäre sie gern losgeworden. Er hatte genug getrunken. Er wollte allein sein.

«Wollen Sie Kaffee?» fragte er. «Es ist das einzige, was hier gut ist.»

Die Frau schüttelte den Kopf. Er sah sie genauer an. «Ist was los? War jemand hier?»

«Nein.»

«Aber irgendwas muß doch los sein. Sie starren mich ja an wie ein Gespenst.»

Die Frau bewegte die Lippen. «Der Geruch», sagte sie dann.

«Geruch?» wiederholte Ravic verständnislos; «Wodka riecht doch nicht. Kirsch und Brandy auch nicht. Und Zigaretten rauchen Sie ja selbst. Was ist daran zu erschrekken?»

«Du lieber Himmel, es wird Äther sein», sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel. «Ist es Äther?»

Sie nickte.

«Sind Sie einmal operiert worden?»

«Nein … es ist …»

Ravic hörte nicht mehr zu. Er öffnete das Fenster. «Wird gleich vorbei sein. Rauchen Sie eine Zigarette inzwischen.» – Er ging ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Im Spiegel sah er sein Gesicht. Er hatte ein paar Stunden vorher schon einmal so gestanden. Inzwischen war ein Mensch gestorben. Es war nichts dabei. Jeden Augenblick starben Tausende von Menschen. Aber für den einen, der starb, war es alles und wichtiger als die ganze Welt, die weiter kreiste. Er setzte sich auf den Rand der Wanne und zog die Schuhe aus.

Ravic warf die Schuhe in eine Ecke. Er drehte die Dusche an. Das kühle Wasser strömte über seine Haut. Er atmete tief und trocknete sich ab. Der Trost der kleinen Dinge. Wasser, Atem, abendlicher Regen. Er ging in das Zimmer zurück. Die Frau hockte in der Ecke des Sofas, die Decke hoch um sich gezogen.

«Kalt?» fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

«Angst?»

Sie nickte.

«Vor mir?»

«Nein.»

«Vor draußen?»

«Ja.»

Ravic schloß das Fenster. – «Danke», sagte sie.

Es war, als würde er von einer Nacht auf einem fremden Planeten zurückgenommen. Alles wurde plötzlich einfach, der Morgen, die Frau – es war nichts mehr zu denken.

«Komm», sagte er.

Sie starrte ihn an.

«Komm», sagte er ungeduldig.

3

Er wachte auf. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau war angezogen und saß auf dem Sofa. Aber sie sah ihn nicht an; sie blickte aus dem Fenster. Er hatte erwartet, sie würde längst fort sein. Es war ihm unbequem, daß sie noch da war. Er konnte morgens keine Menschen um sich leiden. Er überlegte, ob er versuchen sollte, weiterzuschlafen; aber es störte ihn, daß sie ihn beobachten konnte. Er beschloß, sie rasch loszuwerden. Wenn sie auf Geld wartete, war es sehr einfach. Es würde auch sonst einfach sein.

«Sind Sie schon lange auf?»

Die Frau erschrak und drehte sich um. «Ich konnte nicht mehr schlafen. Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe.»

«Sie haben mich nicht geweckt.»

Sie stand auf. «Ich wollte fortgehen.»

«Warten Sie. Ich bin gleich fertig. Sie bekommen noch Ihr Frühstück. Den berühmten Kaffee des Hotels. So lange werden wir beide noch Zeit haben.»

Er stand auf und klingelte. Dann ging er ins Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, hörte er das Mädchen mit dem Frühstück kommen.

Er beeilte sich.

«War es unangenehm?» fragte er, als er herauskam.

«Was?»

«Daß das Zimmermädchen Sie sah. Ich habe nicht daran gedacht.»

«Nein. Es war auch nicht überrascht.» Die Frau blickte auf das Tablett. Es war für zwei Personen, ohne daß Ravic etwas gesagt hätte.

«Sicher nicht. Dafür sind wir in Paris. Hier ist Ihr Kaffee. Haben Sie Kopfschmerzen?»

«Nein.»

«Gut. Ich habe welche. Aber das ist in einer Stunde vorbei. Hier sind Brioches.»

«Ich kann nichts essen.»

«Doch, Sie können. Sie glauben bloß, Sie könnten nicht. Versuchen Sie es nur.»

Sie nahm ein Brioche. Dann legte sie es wieder hin. «Ich kann wirklich nicht.»

«Dann trinken Sie den Kaffee und rauchen eine Zigarette. Das ist das Frühstück der Soldaten.»

«Ja.»

Ravic aß. «Sind Sie immer noch nicht hungrig?» fragte er nach einer Weile.

«Nein.»

Die Frau drückte ihre Zigarette aus. «Ich glaube …», sagte sie und verstummte.

«Was glauben Sie?» fragte Ravic ohne Neugier.

«Ich sollte jetzt gehen.»

«Wissen Sie den Weg? Wo wohnen Sie?»

«Im Hotel Verdun.»

«Das ist wenige Minuten von hier. Ich kann es Ihnen zeigen, draußen. Er zog seine Brieftasche hervor und wollte ihr Geld geben.

«Lassen Sie das! Was soll das?» fragte die Frau.

«Nichts.» Ravic steckte die Brieftasche wieder ein.

Sie sah ihn offen an.

«Sagen Sie mir …» Sie suchte nach Worten. «Vielleicht wissen Sie … was man tun muß … wenn …wenn jemand gestorben ist».. Sie began zu weinen. Sie weinte ohne Laut. Ravic wartete, bis sie ruhiger wurde.

«Ist jemand gestorben?»

Sie nickte.

«Gestern abend?»

Sie nickte wieder.

«Haben Sie ihn getötet? Haben Sie es getan? Wenn Sie mich fragen, was Sie tun sollen, müssen Sie es mir sagen.»

«Er ist gestorben!» schrie die Frau. «Plötzlich …»

«War er krank?» fragte Ravic.

«Ja.»

«Hatten Sie einen Arzt?»

«Ja … aber er wollte nicht ins Krankenhaus …»

«War der Arzt gestern da?»

«Nein. Vor drei Tagen. »

«Hatten Sie keinen anderen danach?»

«Wir wußten keinen. Wir sind erst drei Wochen hier.…»

«Was hat er gehabt?»

«Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte Lungenentzündung … aber er glaubte es nicht … er sagte, alle Ärzte seien Betrüger … und es war auch besser gestern. Dann plötzlich …»

«Warum haben Sie ihn nicht in ein Hospital gebracht?»

«Er wollte nicht …»

«Liegt er noch im Hotel?»

«Ja.»

«Haben Sie dem Hotelbesitzer gemeldet, was geschehen ist?»

«Nein. Als er plötzlich still war … und alles so still … und seine Augen … da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fortgelaufen.»

«Kommen Sie! Ich werde mit Ihnen gehen. War es Ihr Mann?»

«Nein», sagte die Frau.

Ravic sagte«Ich bin Arzt.»

«Wir brauchen hier keinen Arzt mehr. Hier brauchen wir die Polizei.»

Er starrte Ravic und die Frau an. Er erwartete Angst, Protest und Bitten.

«Ein guter Gedanke. Warum ist sie nicht schon hier? Sie wissen doch schon seit einigen Stunden, daß der Mann tot ist.»

Der Patron erwiderte nichts. Er starrte Ravic nur weiter wütend an.

«Ich möchte den Toten sehen. Ich werde dann für alles andere sorgen.»

Ravic ging an dem Wirt vorbei.

Welche Zimmernummer?» fragte er die Frau.

«Vierzehn.»

«Sie brauchen nicht mitzugehen. Ich kann das allein machen.»

«Nein. Ich möchte nicht hierbleiben.»

«Gut. Wie Sie wollen.»

Das Zimmer war niedrig und lag nach der Straße. Der Raum hatte zwei Betten; in dem an der Wand lag der Mann. Er lag gelb wie eine Figur aus Kirchenwachs, mit krausen schwarzen Haaren, in einem roten Seidenpyjama. Die Hände waren zusammengelegt. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine kleine, billige, hölzerne Madonna, auf deren Gesicht Spuren von Lippenstift waren. Ravic nahm sie hoch, «made in Germany» stand auf dem Rücken eingedruckt. Ravic sah das Gesicht des Toten an.

Ravic beugte sich über ihn. Er untersuchte den Körper. Keine Spur irgendeiner Gewalt. Er richtete sich auf.

«Wie hieß der Arzt, der hier war?» fragte er die Frau.«Wissen Sie seinen Namen?»

«Nein.»

Er sah sie an. Sie war sehr blaß. « Ist der Kellner hier, der Ihnen den Arzt besorgt hat?» Er blickte auf die Gesichter in der Tür.

«Wo ist François?»

Ein Kellner drängte sich durch. «Wie hieß der Arzt, der hier war?» «Bonnet. Charles Bonnet.»

«Haben Sie seine Telefonnummer?»

«Passy 27 43.»

«Gut.» Ravic sah das Gesicht des Wirtes .

«Wir wollen jetzt einmal die Tür schließen. »

« Alle ’raus! Was steht ihr überhaupt hier ’rum und stehlt die Zeit, die ich euch bezahle?»

Der Wirt schloß die Tür. Ravic nahm das Telefon ab. Er rief Veber an und sprach eine Weile mit ihm. Dann rief er die Passy-Nummer an. Bonnet war in seinem Sprechzimmer. Er bestätigte, was die Frau gesagt hatte. «Der Mann ist gestorben», sagte Ravic. «Können Sie kommen und den Totenschein ausfüllen?»

« Aber ich unterschreibe nichts, ehe ich nicht bezahlt bin. Dreihundert Frank macht es.»

«Schön. Dreihundert Frank. Sie werden sie bekommen.»

Ravic hängte ab.

«Können Sie den Totenschein nicht selbst ausstellen?» fragte die Frau.

«Nein», sagte Ravic. «Dazu brauchen wir einen französischen Arzt. Am einfachsten den, der ihn behandelt hat.»

Als Bonnet die Tür hinter sich schloß, wurde es plötzlich still. «Sie waren nicht verheiratet?» fragte Ravic.

«Nein. Warum?»

«Das Gesetz. Das Erbe . Die Polizei wird bestimmen, was Ihnen und was ihm gehört. Was Ihnen gehört, nehmen Sie. Was ihm gehört, wird von der Polizei festgehalten. Für Verwandte, die sich melden sollten. Hat er welche?»

«Nicht in Frankreich.»

«Sie haben mit ihm gelebt?»

Die Frau antwortete nicht.

«Lange?»

«Zwei Jahre.»

Ravic sah sich um. Haben Sie keine Koffer?»

«Doch … sie waren hier … Gestern abend noch.»

«Aha, der Wirt.» Ravic öffnete die Tür. Die Putzfrau mit dem Besen stand neben der Tür. «Mutter», sagte er, «für Ihr Alter sind Sie zu neugierig. Rufen Sie den Wirt.»

Die Putzfrau wollte protestieren.

«Sie haben recht», unterbrach Ravic. «In Ihrem Alter hat man nur noch die Neugier. Aber rufen Sie den Wirt.»

Der Wirt kam herein, einen Zettel in der Hand. Er klopfte nicht an.

«Wo sind die Koffer?» fragte Ravic.

«Zuerst einmal die Rechnung. Hier. Erst wird die Rechnung bezahlt.»

«Zuerst einmal die Koffer. Das Zimmer ist noch immer vermietet. Das nächste Mal klopfen Sie an, wenn Sie hereinkommen. Geben Sie die Rechnung her, und lassen Sie die Koffer bringen.»

Der Wirt starrte ihn wütend an. «Sie werden Ihr Geld bekommen», sagte Ravic.

«Wissen Sie, wo Geld ist? In seinem Anzug? Oder war keins da?»

«Er hatte Geld in seiner Brieftasche, unter seinem Kopfkissen hatte er sie meistens.»

Ravic stand auf. Er hob vorsichtig das Kopfkissen mit dem Kopf des Toten und holte darunter eine lederne schwarze Brieftasche hervor. Er gab sie der Frau. «Nehmen Sie das Geld heraus und alles, was wichtig für Sie ist. Schnell. Es ist keine Zeit für Sentimentalität. Sie müssen leben. Zu was sonst ist es nütze?» Er blickte eine Minute aus dem Fenster.

«Fertig?»

«Ja.»

«Geben Sie mir die Brieftasche wieder zurück.» Er schob sie unter das Kissen. Er fühlte, daß sie dünner war als vorher. «Packen Sie die Sachen in Ihre Handtasche», sagte er.

Sie tat es gehorsam. Ravic nahm die Rechnung und sah sie durch.

Es klopfte. Ravic konnte sich nicht enthalten zu lächeln. Der Junge brachte die Koffer herein. Der Wirt folgte ihm.

«Sind das alle?» fragte Ravic die Frau.

«Ja.»

«Natürlich sind das alle», grunzte der Wirt. «Was dachten Sie denn?»

«Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?» «Ich bin der Bruder», sagte Ravic.

Die Frau nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm. «Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.» sagte er und verließ das Zimmer.

«Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden», sagte Ravic und sah die Frau an.

Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern «Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig … wenn man lebt, kümmert sich niemand.»

Er sah die Frau noch einmal an. «Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.»

«Nein. Ich möchte hierbleiben.»

«Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?»

«Ich weiß nicht. Er … wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft  … er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.» Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität.

«Er weiß nichts mehr davon», sagte Ravic.

«Das ist es nicht…»

«Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.»

Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. «Bringen Sie zwei große Kognaks.»

«Hierher?» – «Ja. Wohin sonst?»

«Sehr wohl, mein Herr.» Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand so schnell er konnte. Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. «Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.» Sie trank das Glas aus.

«Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?»

«Nein.»

«Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?»

«Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.» «Auch nicht in dem kleinen Koffer?»

«Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.» Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht.

«Hier sind hundert Dollar», sagte er. «Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.» «Danke», sagte die Frau. «

Ravic schenkte die Gläser voll. «Trinken Sie das noch.»

Sie trank das Glas langsam aus. «Besser?» fragte er. Sie sah ihn an. «Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.»

«Ich kann nichts denken», sagte sie, «solange er da ist.»

Die Ambulanzgehilfen sind gekommen. Sie deckten ein Tuch über den Leichnam. Ravic stand neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Ravic nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. «Ich glaubte, das gehört Ihnen», sagte er. «Wollen Sie es nicht behalten?» «Nein.» Er öffnete den kleinen Koff er und legte sie hinein. «Kommen Sie», sagte Ravic zu der Frau. «Wir können unten warten.» Die Frau schüttelte den Kopf. «Gut», sagte er zu den Gehilfen. «Tun Sie, was nötig ist.»

Ravic sah ihnen nach, bis sie unten waren. Dann ging er zurück. Die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Auf der Straße das Auto. Die Gehilfen schoben die Bahre hinein wie ein Bäcker Brot in einen Ofen. Die Frau drehte sich um.

«Sie hätten vorher weggehen sollen», sagte Ravic. «Wozu mußte sie das letzte noch sehen?»

«Ich konnte nicht. Ich konnte nicht von ihm gehen. Verstehen Sie das nicht?»

«Ja. Kommen Sie. Trinken Sie noch ein Glas.»

«Nein.»

Veber hatte den Lichtschalter angedreht, als die Polizei und die Ambulanz kamen. Der Raum erschien jetzt größer, seit der Körper fort war.

«Wollen Sie hier im Hotel bleiben? Doch sicher nicht?»

«Nein.»

«Haben Sie Bekannte hier?» «Nein. Niemand.»

«Wissen Sie ein Hotel, in das Sie möchten?»

«Nein.»

«In der Nähe ist ein kleines Hotel, ähnlich wie dieses. Sauber und ehrlich. Wir könnten dort etwas für Sie finden. Hotel Milan.»

«Kann ich nicht in das Hotel gehen, wo …? In Ihr Hotel?»

«Ins International?»

«Ja. Ich … es ist … ich kenne es nun schon etwas. Es ist besser als ein ganz unbekanntes.»

«Das International ist kein gutes Hotel für Frauen», sagte Ravic. Das fehlte noch, dachte er. Im selben Hotel. Ich bin kein Krankenwärter. «Es ist immer überfüllt. Besser, Sie gehen zum Hotel Milan. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie es ja immer noch wechseln.»

Die Frau sah ihn an. Er hatte das Gefühl, daß sie wußte, was er dachte, und er war beschämt.

Aber es war besser, einen Augenblick beschämt zu sein und dafür später Ruhe zu haben. «Gut», sagte die Frau. «Sie haben recht.»

Ravic ließ die Koffer hinunter in ein Taxi bringen. Das Hotel Milan war nur wenige Minuten entfernt. Er mietete ein Zimmer und ging mit der Frau hinauf. Es war ein Raum im zweiten Stock mit einer Tapete mit Rosengirlanden, einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit zwei Stühlen.

«Ist das genug?» fragte er.

«Ja. Sehr gut.».

Die Koffer wurden heraufgebracht. «So, jetzt haben Sie alles hier.»

«Ja. Danke. Danke vielmals.»

Die Frau saß auf dem Bett. Ihr Gesicht war sehr blaß. «Sie sollten schlafen gehen. Glauben Sie, daß Sie es können?»

«Ich werde es versuchen.»

Ravic gab ihr ein paar Tabletten «Hier ist etwas zum Schlafen. Mit einem Glas Wasser. Wollen Sie es jetzt nehmen?»

«Nein, später.»

«Gut. Ich werde jetzt gehen. In den nächsten Tagen werde ich nach Ihnen fragen. Versuchen Sie, sobald wie möglich zu schlafen. Hier ist die Adresse des Beerdigungsinstituts, wenn Sie noch etwas zu tun haben. Gehen Sie nicht hin. Denken Sie an sich. Ich werde nach Ihnen fragen. Wie heißen Sie?» fragte er.

«Madou. Joan Madou.»

«Joan Madou. Gut. Ich werde das behalten. »

4

Die Fiebertabelle über dem Bett war neu und leer. Nur der Name stand darauf. Lucienne Martinet. Butte Chaumont, Rue Clavel.

Das Mädchen lag grau in den Kissen. Es war am Abend vorher operiert worden. Ravic prüfte vorsichtig das Herz. «Besser», sagte er. « Wenn sie bis morgen durchhält, hat sie eine Chance.»

«Gut», sagte Veber. «Gratuliere. Es sah nicht so aus. Hundertvierzig Puls und achtzig Blutdruck!»

«Da ist nichts zu gratulieren. Sie ist früher gekommen als die andere. Die mit der Goldkette um den Fuß. Das ist alles.»

Er deckte das Mädchen zu. «Das ist der zweite Fall in einer Woche. Wenn es so weitergeht, werden Sie noch eine Klinik für misslingende Aborte in der Butte Chaumont. War die andere nicht auch daher?»

Veber nickte. «Ja, auch von der Rue Clavel. Kannten sich wahrscheinlich und waren bei derselben Hebamme. Kam sogar um dieselbe Zeit, abends, wie die andere. Gut, daß ich Sie noch im Hotel erreicht habe. Dachte schon, Sie wären nicht mehr da.»

Ravic sah ihn an. «Wenn man im Hotel wohnt, ist man meistens abends nicht da, Veber».

«Aber warum wohnen Sie dann eigentlich immer im Hotel?»

«Es ist bequem und unpersönlich. Man ist allein und doch nicht allein.»

«Wollen Sie das?»

«Ja.»

«Das können Sie anderswie doch auch. Wenn Sie sich ein kleines Appartement mieten, haben Sie es doch ebenso.»

«Vielleicht.» Ravic beugte sich über das Mädchen.

«Finden Sie nicht auch, Eugenie?» fragte Veber.

Die Operationsschwester blickte auf. «Herr Ravic wird das nie tun», sagte sie kalt.

«Doktor Ravic, Eugenie», korrigierte Veber. «Er war Chefchirurg eines großen Hospitals in Deutschland. Viel mehr als ich.»

«Hier …», begann die Schwester und rückte ihre Brille zurecht.

Veber winkte rasch ab. «Gut! Gut! Wir wissen das alles. Hier erkennt der Staat keine ausländischen Examen an. Blödsinnig genug! Aber woher wissen Sie so genau, daß er kein Appartement nehmen wird?»

«Herr Ravic ist ein verlorener Mensch; er wird nie ein Heim gründen.»

«Was?» fragte Veber erstaunt . «Was reden Sie da?» «Herrn Ravic ist nichts mehr heilig. Das ist der Grund.»

«Bravo», sagte Ravic vom Bett des Mädchens her.

«Hat man so etwas schon mal gehört?» Veber starrte Eugenie an.

«Fragen Sie ihn nur selbst, Doktor Veber.»

«Sie haben ins Schwarze getroffen, Eugenie. Aber wenn einem nichts mehr heilig ist, wird einem alles auf eine menschlichere Weise wieder heilig. Sie haben keinen Glauben.»

Eugenie strich sich energisch den weißen Kittel über der Brust zurecht. «Ich habe gottlob meinen Glauben.»

Ravic griff nach seinem Mantel. «Glaube macht leicht fanatisch. Deshalb haben alle Religionen so viel Blut gekostet. Toleranz ist die Tochter des Zweifels, Eugenie. Sind Sie mit all Ihrem Glauben nicht viel aggressiver gegen mich als ich verlorener Ungläubiger gegen Sie?»

Veber lachte. «Da haben Sie es, Eugenie. Antworten Sie nicht. Es wird nur noch schlimmer!»

Vebers Büro war voll von Möbeln aus der Empirezeit; weiß, golden und zerbrechlich. Über dem Schreibtisch hingen Fotografien seines Hauses und seines Gartens. Die Klinik gehörte Veber.

«Was wollen Sie trinken, Ravic? Kognak oder Dubonnet?»

«Kaffee, wenn Sie noch welchen da haben.»

«Natürlich.»

Veber stellte die Maschine auf den Schreibtisch und schaltete den Kontakt ein. Dann wandte er sich an Ravic.

«Können Sie mich heute nachmittag in der ›Osiris‹ vertreten?»

«Selbstverständlich.»

«Macht es Ihnen nichts?»

«Ich habe nichts vor.»

«Gut. Ich brauche dann nicht extra wieder hereinzufahren. Kann in meinem Garten arbeiten.»

«Unsinn», sagte Ravic. «Ich habe es doch schon oft genug gemacht.»

«Das ist richtig.»

« Idiotisch genug, daß ein Mann mit Ihrem Können hier nicht offiziell arbeiten darf und sich als schwarzer Chirurg verstecken muß.»

«Aber Veber! Das ist doch schon eine alte Geschichte. Geht ja allen Ärzten so, die aus Deutschland geflüchtet sind.»

«Trotzdem! Es ist lächerlich! Sie machen Durants schwierigste Operationen, und er macht sich einen Namen damit.»

«Besser, als wenn er sie selbst machte.» Veber lachte.

«Ich sollte nicht reden. Sie machen meine ja auch. Aber schließlich bin ich hauptsächlich Frauenarzt und kein Spezialist als Chirurg.»

Die Kaffeemaschine begann zu pfeifen. Veber stellte sie ab. Er holte Tassen aus einem Schrank und goß den Kaffee ein. «Eines verstehe ich nicht, Ravic», sagte er. «Weshalb wohnen Sie wirklich noch immer in dieser Bude, dem ›International‹. Warum mieten Sie sich nicht eines dieser neuen Appartements in der Nähe des Bois? Ein paar Möbel können Sie überall billig kaufen. Dann wissen Sie doch wenigstens, was Sie haben.»

«Ja», sagte Ravic. «Dann wüßte ich, was ich hätte.»

«Na also, warum tun Sie es nicht?»

Ravic trank einen Schluck Kaffee. Er war bitter und sehr stark.

«Veber», sagte er, «Sie sind ein gutes Beispiel für die Krankheit unserer Zeit: bequemes Denken. In einem Atemzug bedauern Sie, daß ich illegal hier arbeiten muß, und gleichzeitig fragen Sie mich, warum ich kein Appartement miete.»

«Was hat das eine mit dem andern zu tun?»

Ravic lachte ungeduldig. «Wenn ich ein Appartement nehme, muß ich bei der Polizei angemeldet werden. Dazu brauche ich einen Paß und ein Visum.»

«Richtig. Daran habe ich nicht gedacht. Und im Hotel?»

«Da auch. Aber es gibt einige Hotels in Paris, die es mit dem Anmelden nicht so genau nehmen.»Ravic goß einen Schluck Kognak in seinen Kaffee. «Eines davon ist das ›International‹. Deshalb wohne ich da. «Ravic», sagte Veber, «ich wußte das nicht. Ich dachte nur, Sie dürften hier nicht arbeiten. Das ist ja eine verdammte Situation.»

«Es ist ein Paradies, verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager.»

«Und die Polizei? Wenn sie doch einmal kommt?»

«Wennsie uns erwischt, gibt es ein paar Wochen Gefängnis und Ausweisung über die Grenze. Meistens in die Schweiz. Im Wiederholungsfalle sechs Monate Gefängnis.»

«Was?»

«Sechs Monate», sagte Ravic. «Aber das ist doch unmenschlich.»

«Das dachte ich auch, bis ich es lernte.»

«Wieso lernte? Ist Ihnen denn das schon einmal passiert?»

«Nicht einmal. Dreimal. Ebenso wie hundert andern auch. Im Anfang, als ich noch nichts davon wußte. Später, als ich dann wieder hierher zurückkam, wußte ich natürlich Bescheid.»

Veber stand auf. «Aber um Himmels willen …» Er rechnete. «Dann sind Sie ja über ein Jahr für nichts im Gefängnis gewesen.»

«Nicht so lange. Nur zwei Monate.»

«Wieso? Sie sagten doch, im Wiederholungsfalle wären es schon sechs Monate?»

Ravic lächelte. «Wenn man Erfahrung hat, kann man unter einem andern Namen zurückkommen. Wir haben doch keine Papiere . Ravic ist mein dritter Name. Ich habe ihn seit fast zwei Jahren. Nichts passiert seitdem. Scheint mir Glück zu bringen. Meinen wirklichen habe ich schon fast vergessen.»

Veber schüttelte den Kopf. «Und das alles nur, weil Sie kein Nazi sind.»

«Natürlich. Nazis haben erstklassige Papiere. Und sämtliche Visa, die sie wollen.»

«Schöne Welt, in der wir leben! Daß die Regierung da nichts tut.Die Regierung hat einige Millionen Arbeitslose, für die sie zuerst sorgen muß. Außerdem ist das nicht nur in Frankreich so. Es ist überall dasselbe.»

Ravic stand auf. « In zwei Stunden werde ich wieder nach dem Mädchen sehen. Nachts auch noch einmal.»

Veber kam ihm nach zur Tür. «Hören Sie, Ravic», sagte er, «kommen Sie doch einmal abends zu uns heraus. Zum Essen.»

Ravic ging ins nächste Bistro. Er setzte sich an ein Fenster, um auf die Straße blicken zu können. Er liebte das – gedankenlos dazusitzen und die Leute draußen vorbeigehen zu sehen. Paris war die Stadt, wo man mit nichts seine Zeit am besten verbringen konnte.

… Ravic blickte auf seine Uhr. Es war Zeit, nach Lucienne Martinet zu sehen. Und danach für das «Osiris». Die Huren im «Osiris» warteten schon. Sie wurden zwar regelmäßig von einem Amtsarzt untersucht; aber der Besitzerin war das nicht genug. Sie konnte sich nicht leisten, daß sich jemand in ihrem Lokal ansteckte, deshalb hatte sie mit Veber ein Abkommen getroffen, daß die Mädchen jeden Donnerstag noch einmal privat untersucht wurden. Ravic vertrat ihn manchmal dabei. Die Besitzerin hatte einen Raum im ersten Stock als Untersuchungszimmer eingerichtet. Sie war sehr stolz darauf, daß seit mehr als einem Jahr keiner ihrer Kunden sich etwas geholt hatte; dafür aber hatten, trotz aller Vorsicht der Mädchen, siebzehn Kunden Geschlechtskrankheiten mitgebracht. Rolande, die Gouvernante, brachte Ravic eine Flasche Brandy und ein Glas. «Ich glaube, Marthe hat etwas», sagte sie.

«Gut. Ich werde sie genau ansehen.» «Ich habe sie schon gestern nicht mehr arbeiten lassen. Sie streitet es ab, natürlich. Aber ihre Wäsche …»

«Gut, Rolande.»

» Die Mädchen kamen eine nach der anderen in ihren Hemden herein. Ravic kannte fast alle; es waren nur zwei Neue dabei. «

Mich brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor», sagte Leonie.

«Warum nicht?»

«Keine Kunden, die ganze Woche.»

«Was sagt die Madame dazu?»

«Nichts. Ich habe eine Menge Champagner gemacht. Sieben Flaschen jeden Abend.

«Gut. Ich muß dich trotzdem untersuchen.»

«Meinetwegen. Haben Sie eine Zigarette, Doktor?»

«Ja, hier

«Wissen Sie, was ich nicht verstehe?» sagte Leonie, während sie Ravic beobachtete.

«Was?»

«Daß Sie, wenn Sie diese Sachen machen, noch Lust haben, mit einer Frau zu schlafen.»

«Das verstehe ich auch nicht. Du bist in Ordnung. Wer kommt jetzt?»

«Marthe.»

Marthe war blaß, schmal und blond. Sie hatte das Gesicht eines Botticelli-Engels, aber sie sprach den Jargon der Rue Blondel.

«Mir fehlt nichts, Doktor.»

«Das ist gut. Wir werden sehen.»

«Aber mir fehlt wirklich nichts.»

«Um so besser.»

Rolande stand plötzlich im Zimmer. Sie sah Marthe an. Das Mädchen sagte nichts mehr. Unruhig sah es Ravic an. Er untersuchte sie genau.

«Aber es ist nichts, Doktor. Sie wissen doch, wie vorsichtig ich bin.» Ravic erwiderte nichts. Ravic machte einen Abstrich und untersuchte ihn.

«Du bist krank, Marthe», sagte er.

«Was?Das kann nicht stimmen.»

«Es stimmt.»

Sie sah ihn an. «Dieses Schwein! Ich habe ihm gleich nicht getraut! Student wäre er, sagte er, müsse es doch wissen, er wäre ja Medizinstudent!»

Ravic nickte. Die alte Sache – ein Medizinstudent, der sich einen Tripper geholt und selbst behandelt hatte. Nach zwei Wochen hatte er sich für gesund gehalten, ohne eine Reaktion zu machen.

«Wie lange wird es dauern, Doktor?» «Sechs Wochen.» Ravic wußte, daß es länger dauern würde.

«Sechs Wochen?» Sechs Wochen kein Verdienst. Ins Hospital? «Muß ich ins Hospital? Sechs Wochen ohne Verdienst.»

Sie weinte. «

Komm, Marthe», sagte Rolande.

«Sie nehmen mich nicht wieder! Ich weiß es!»

«Dann muß ich auf die Straße. Und alles wegen diesem …»

«Wir nehmen dich wieder. Die Kunden mögen dich.»

«Wirklich?»

«Natürlich. Und nun komm.» Marthe ging mit Rolande hinaus. Ravic sah ihr nach. Sie würde nicht wiederkommen. Madame war viel zu vorsichtig. Ihre nächste Etappe waren vielleicht noch die billigen Bordelle an der Rue Blondel. Dann die Straße. Dann Koks, Hospital, Blumen oder Zigarettenhandel.

Der Speisesaal des Hôtels International lag unter der Erde. Die Bewohner nannten ihn deshalb die Katakombe. Im Winter mußte er den ganzen Tag erleuchtet werden. Der Raum war gleichzeitig Rauchzimmer, Schreibzimmer, Halle, Versammlungsraum und die Rettung der Emigranten, die keine Papiere hatten – sie konnten, wenn die Polizei kontrollierte, durch ihn zum Hof in eine Garage und von dort auf die gegenüberliegende Straße entkommen. Ravic saß mit dem Portier des Nachtklubs Scheherazade, Boris Morosow, in einer Ecke der Katakombe. Morosow lebte seit fünfzehn Jahren in Paris. Sie spielten Schach. Die Katakombe war leer, bis auf einen Tisch, an dem einige Leute saßen und tranken und laut redeten und alle paar Minuten einen Toast ausbrachten. Morosow sah sich ärgerlich um. «Kannst du mir erklären, Ravic, warum hier heute abend so laut ist? Warum gehen diese Emigranten nicht schlafen?» Ravic lachte. «Diese Emigranten da in der Ecke gehen mich nichts an. »

Sie spielten ungefähr eine Stunde. Dann sah Morosow auf. «Da kommt Charles», sagte er. «Er will scheinbar etw as von dir.»

Ravic sah auf. Der Bursche aus der Conciergenloge kam heran. Er hatte ein kleines Paket in der Hand. «Dies hier ist für Sie.» «Für mich?» Ravic betrachtete das Paket. Es war klein, in weißes Seidenpapier gewickelt und verschnürt. Eine Adresse stand nicht drauf. «Ich erwarte keine Pakete. Muß ein Irrtum sein. Wer hat es gebracht?» «Eine Frau … eine Dame …» «Es steht kein Name darauf. Hat sie gesagt, es sei für mich?» «Das nicht gerade. Sie hat gesagt, für den Arzt, der hier wohnt.» «Sie kam doch vor kurzem nachts mit Ihnen.» «Es kommen ab und zu Damen mit mir, Charles. Aber du solltest wissen, daß Privatsphäre die erste Tugend eines Hotelangestellten ist. »

«Mach das Paket auf, Ravic», sagte Morosow.

«Selbst wenn es nicht für dich ist. »

5

Der Wirt kannte Ravic gleich wieder. «Die Dame ist in ihrem Zimmer», sagte er.

«Können Sie ihr telefonieren, daß ich hier bin?»

«Das Zimmer hat kein Telefon. Sie können ruhig hinaufgehen.» «Welche Nummer ist es?»

«Siebenundzwanzig.»

«Ich habe den Namen nicht mehr im Kopf. Wie hieß sie doch?» Der Wirt zeigte kein Erstaunen. «Madou. Joan Madou», fügte er hinzu. «Glaube nicht, daß sie wirklich so heißt. Künstlername wahrscheinlich.»

«Wieso Künstlername?»

«Sie hat sich als Schauspielerin eingetragen. Klingt doch so, wie?»

«Das weiß ich nicht. Ich kannte einen Schauspieler, der nannte sich Gustav Schmidt. Er hieß in Wirklichkeit Alexander Marie Graf von Zambona. Gustav Schmidt war sein Künstlername. Klang gar nicht so, wie?»

Der Wirt gab sich nicht geschlagen. «Heutzutage passiert viel», erklärte er.

«Es passiert gar nicht einmal so viel. Wenn Sie Geschichte studieren, werden Sie finden, daß wir noch in verhältnismäßig ruhigen Zeiten leben.»

«Danke, mir genügt’s.»

«Mir auch. Aber man muß seinen Trost suchen, wo man kann. Nummer siebenundzwanzig, sagten Sie?»

«Ja, mein Herr.»

Ravic klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal und hörte eine undeutliche Stimme. Als er die Tür öffnete, sah er die Frau. Sie saß auf dem Bett. Sie war angezogen und trug das blaue Schneiderkostüm, in dem Ravic sie zum ersten Male gesehen hatte.

Er zog die Tür hinter sich zu. «Ich hoffe, ich störe Sie nicht», sagte er und verstand sofort, wie sinnlos das war. Was konnte die Frau schon stören? Da war nichts, was sie noch stören konnte.

Er legte seinen Hut auf einen Stuhl. «Konnten Sie alles erledigen?» fragte er.

«Ja. Es war nicht viel.»

«Keine Schwierigkeiten?»

«Nein.»

Ravic setzte sich in den einzigen Sessel des Zimmers.

«Wollten Sie fortgehen?» fragte er.

«Ja. Irgendwann. Später. Nirgendwohin – nur so. Was soll man sonst tun?»

«Nichts. Es ist richtig; für ein paar Tage. Kennen Sie niemand in Paris?»

«Nein.»

«Niemand?»

Die Frau hob mit einer müden Bewegung den Kopf. «Niemand – außer Ihnen, den Wirt, den Kellner und das Zimmermädchen.» Sie lächelte. «Das ist nicht viel, wie?»

«Nein. Kannte …» Ravic suchte nach dem Namen des toten Mannes. Er hatte ihn vergessen.

«Nein», sagte die Frau. «Raczinsky hatte keine Bekannten hier, oder ich habe sie nie gesehen. Er wurde gleich krank, als wir hier ankamen.»

Ravic hatte nicht lange bleiben wollen. Jetzt, als er die Frau so dasitzen sah, änderte er seine Absicht. «Haben Sie schon zu Abend gegessen?»

«Nein. Ich bin auch nicht hungrig.»

«Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?»

«Ja. Heute mittag. Tagsüber ist das einfacher. Abends …» – Ravic blickte sich um. Das kleine, kahle Zimmer roch nach Trostlosigkeit und November. «Es wird Zeit, daß Sie hier herauskommen», sagte er. «Kommen Sie. Wir werden zusammen essen gehen.»

Er hatte erwartet, daß die Frau Protest machen würde. Aber sie stand gleich auf und griff nach ihrem Regenmantel.

«Das da ist nicht genug», sagte er. «Der Mantel ist viel zu dünn. Haben Sie keinen wärmeren? Es ist kalt draußen.»

«Es regnete vorhin …» «Es regnet immer noch. Aber es ist kalt. Können Sie nicht etwas darunter anziehen. Einen anderen Mantel oder wenigstens einen Sweater?»

«Ich habe einen Sweater.»

Sie ging zu dem größeren Koffer. Ravic sah, daß sie fast nichts ausgepackt hatte. Sie holte einen schwarzen Sweater aus dem Koffer, zog die Jacke aus und streifte ihn über. Sie hatte gerade und schöne Schultern. Dann nahm sie die Mütze und zog die Jacke und den Mantel an. «Ist es so besser?»

«Viel besser.»

Sie gingen die Treppe hinunter. Der Wirt war nicht mehr da. Statt dessen saß der Concierge neben dem Schlüsselbrett. Er sortierte Briefe und roch nach Knoblauch.

«Haben Sie immer noch das Gefühl, daß Sie nichts essen können?» fragte Ravic draußen.

«Ich weiß es nicht. Nicht viel, glaube ich.» Ravic winkte ein Taxi heran. «Gut. Dann werden wir in die ›Belle Aurore‹ fahren.»

Die «Belle Aurore» war nicht sehr besetzt. Es war schon zu spät dafür. Sie fanden einen Tisch in dem schmalen, oberen Raum mit der niedrigen Decke. Außer ihnen war nur noch ein Paar da, das am Fenster saß und Käse aß, und ein einzelner, dünner Mann, der einen Berg Austern vor sich hatte. Der Kellner kam und besah das Tischtuch kritisch. Dann entschloß er sich, es zu wechseln.

«Zwei Wodkas», bestellte Ravic. «Kalt.»

«Wir werden etwas trinken und Vorspeisen essen», sagte er zu der Frau. «Ich glaube, das ist das richtige für Sie. Dies ist ein Restaurant für Hors d’œuvres. Es gibt kaum etwas anderes hier. Jedenfalls kommt man fast nie dazu, etwas anderes zu essen. » Der Kellner brachte den Wodka und holte einen Notizblock heraus. «Eine Karaffe Vin rosé», sagte Ravic. «Haben Sie Anjou?»

«Anjou, offen, rosé, sehr wohl, mein Herr.»

«Gut. Eine große Karaffe in Eis. Und die Vorspeisen.»

Der Kellner ging. Ravic hob sein Glas. «Wir wollen das hier einmal auf einen Schluck austrinken. Salute.»

«Salute», sagte Joan Madou und trank.

Die Vorspeisen wurden auf kleinen Wagen herbeigerollt. «Was möchten Sie?» Ravic sah die Frau an. «Ich glaube, das einfachste ist, ich stelle Ihnen etwas zusammen.»

Er häufte einen Teller voll und gab ihn ihr hinüber. «Es macht nichts, wenn Ihnen davon nichts schmeckt. Es kommen noch ein paar andere Wagen. Dies ist nur der Anfang.»

Er füllte sich selbst einen Teller und begann zu essen, ohne sich um sie weiter zu kümmern. Er spürte plötzlich, daß auch sie aß. Er schälte eine Langustine und hielt sie ihr hinüber. «Probieren Sie das einmal. Besser als Langusten. Und nun die Paté Maison. Und jetzt etwas von dem Wein. Leicht und kühl.»

«Sie machen sich viel Mühe mit mir», sagte die Frau.

«Ja, wie ein Oberkellner.» Ravic lachte.

«Nein. Aber Sie machen sich viel Mühe mit mir.»

«Ich esse nicht gern allein. Das ist alles. Genau wie Sie.»

«Ich bin kein guter Partner.»

«Doch», erwiderte Ravic. «Zum Essen schon. Zum Essen sind Sie ein erstklassiger Partner. Ich kann keine Menschen leiden, die zu viel und zu laut sprechen.»

«Hier kommt der nächste Vorratswagen. Wollen wir gleich heran, oder wollen Sie vorher eine Zigarette rauchen?»

«Lieber vorher eine Zigarette.»

«Gut. Ich habe heute andere bei mir als die mit dem schwarzen Tabak.»

Er gab ihr Feuer. Sie lehnte sich zurück und atmete tief den Rauch ein. Dann sah sie Ravic voll an. «Es ist gut, so zu sitzen», sagte sie, und es schien ihm einen Augenblick, als würde sie sofort in Tränen ausbrechen.

Sie tranken Kaffee im «Colysée». Der große Raum zu den Champs Elysées war überfüllt, aber sie bekamen einen Tisch unten in der Bar.

«Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie tun wollen?» fragte Ravic.

«Nein, noch nicht.»

«Hatten Sie irgendwas Bestimmtes vor, als Sie hierher kamen?»

«Nein, nichts Genaues.»

«Ich frage Sie nicht aus Neugier.»

«Das weiß ich. Sie meinen, ich solle etwas tun. Das will ich auch. Ich sage es mir selbst jeden Tag. Aber dann  …»

«Der Wirt sagte mir, Sie seien Schauspielerin. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Er sagte es mir, als ich nach Ihrem Namen fragte.»

«Wußten Sie ihn nicht mehr?»

Ravic blickte auf. Sie sah ihn ruhig an. «Nein», sagte er. «Ich hatte den Zettel im Hotel gelassen und konnte mich nicht mehr erinnern.»

«Wissen Sie ihn jetzt?»

«Ja. Joan Madou.»

«Ich bin keine gute Schauspielerin», sagte die Frau. «Ich habe nur kleine Rollen gespielt. In der letzten Zeit nichts mehr. Ich spreche auch nicht gut genug Französisch dafür.»

«Was sprechen Sie denn?»

«Italienisch. Ich bin da aufgewachsen. Und etwas Englisch und Rumänisch. Mein Vater war Rumäne. Er ist tot. Meine Mutter Engländerin; sie lebt noch in Italien, ich weiß nicht, wo.»

Ravic hörte nur halb zu. Er langweilte sich und wußte nicht mehr recht, was er reden sollte. «Haben Sie außerdem noch etwas getan?» fragte er, um etwas zu fragen. «Außerhalb der kleinen Rollen, die Sie gespielt haben?»

«Das, was so dazugehört. Etwas singen und tanzen.»

Er blickte sie zweifelnd an. Sie sah nicht so aus. Sie war nicht attraktiv. Sie sah nicht einmal aus wie eine Schauspielerin.

«So etwas können Sie ja leichter hier versuchen», sagte er. «Dazu brauchen Sie nicht perfekt zu sprechen.»

«Nein. Aber ich muß erst etwas finden. Das ist schwer, wenn man niemand kennt.»

Morosow, dachte Ravic plötzlich. Die Scheherazade. Natürlich. Morosow mußte von solchen Sachen etwas wissen. «Können Sie Russisch?» fragte er.

«Etwas. Ein paar Lieder. Zigeunerlieder. Sie sind so ähnlich wie rumänische. Warum?»

«Ich kenne jemand, der von diesen Dingen etwas versteht. Vielleicht kann er Ihnen helfen. Ich werde Ihnen seine Adresse geben.»

«Ich fürchte, es hat nicht viel Zweck. Agenten sind überall gleich.»

«Der Mann, den ich meine, ist kein Agent. Er ist Portier in der Scheherazade. Das ist ein russischer Nachtklub in Montmartre.»

«Portier?» Joan Madou hob den Kopf. «Das ist etwas anderes. Portiers wissen mehr als Agenten. Das kann etwas sein. Kennen Sie ihn gut?»

«Ja.»

Ravic war überrascht. Sie hatte auf einmal ganz geschäfts – mäßig gesprochen. Das geht ja schnell, dachte er. «Es ist ein Freund von mir. Er heißt Boris Morosow», sagte er. «Er ist seit zehn Jahren in der Scheherazade. Sie haben da immer eine ziemlich große Show. Die Nummern wechseln oft . Morosow ist mit dem Manager befreundet. Wenn in der Scheherazade nichts für Sie frei ist, weiß er sicher etwas anderes – irgendwo. Wollen Sie es versuchen?»

«Ja. Wann?»

«Am besten so um neun Uhr abends. Dann ist noch nichts zu tun, und er hat Zeit für Sie. Ich werde ihm Bescheid sagen.» Ravic freute sich bereits auf das Gesicht Morosows. Er fühlte sich plötzlich besser. Die leichte Verantwortung, die er immer noch gespürt hatte, war verschwunden. Er hatte getan, was er konnte, und nun mußte sie weitersehen. «Sind Sie müde?» fragte er.

Joan Madou blickte ihm gerade in die Augen. «Ich bin nicht müde», sagte sie. «Aber ich weiß, daß es kein Vergnügen ist, mit mir hier zu sitzen. Sie haben Mitleid mit mir gehabt, und ich danke Ihnen dafür. Sie haben mich aus dem Zimmer genommen und mit mir gesprochen. Das war viel für mich, denn ich habe seit Tagen kaum mit jemand ein Wort gewechselt. Ich werde jetzt gehen. Sie haben mehr als genug für mich getan. All die Zeit schon. Was wäre sonst aus mir geworden!» Mein Gott, dachte Ravic, jetzt fängt sie auch noch damit an.

«Es war kein Mitleid», sagte Ravic.

«Was sonst?»

«Wir werden jetzt einen guten, alten Armagnac trinken», sagte Ravic. «Das ist die beste Antwort. Glauben Sie mir: Ich bin kein so besonderer Menschenfreund. Es gibt viele Abende, wo ich allein irgendwo herumsitze. Halten Sie das für besonders interessant?»

«Nein, aber ich bin ein schlechter Partner, und das ist schlimmer.»

«Ich habe verlernt, nach Partnern zu suchen. Hier ist Ihr Armagnac. Salute!»

«Salute!» Ravic setzte sein Glas nieder. «So, und jetzt werden wir aus dieser Menagerie hier verschwinden. Sie möchten doch noch nicht ins Hotel zurück?»

Joan Madou schüttelte den Kopf.

«Gut. Dann werden wir weitergehen. Und zwar zur Scheherazade. Wir werden da trinken. Das haben wir beide scheinbar nötig, und Sie können dann gleich ansehen, was dort los ist.»

Es war gegen drei Uhr nachts.

Sie standen vor dem Hotel Milan. «Haben Sie genug getrunken?» fragte Ravic.

Joan Madou antwortete nicht sofort. «Ich dachte, es wäre genug in der Scheherazade. Aber jetzt verstehe ich, es war nicht genug.Vielleicht gibt es hier im Hotel noch etwas. Sonst gehen wir in eine Kneipe und kaufen eine Flasche. Kommen Sie.»

Sie sah ihn an. Dann sah sie die Tür an. «Gut», sagte sie. Doch sie blieb stehen. «Da hinaufgehen», sagte sie. «In das leere Zimmer …»

«Ich werde Sie hinauf-bringen. Und wir werden eine Flasche mitnehmen.»

Der Portier erwachte. «Haben Sie noch etwas zu trinken?» fragte Ravic.

«Champagnercocktail?» fragte der Portier.

«Danke. Etwas Herzhafteres. Kognak. Eine Flasche.»

«Courvoisier, Martell, Hennessy, Biscuit Dubouche?» «Courvoisier.»

«Sehr wohl, mein Herr. Ich werde den Kork ziehen und die Flasche heraufb ringen.»

Sie gingen die Treppe hinauf. «Haben Sie Ihren Schlüssel?» fragte Ravic die Frau.

«Das Zimmer ist nicht abgeschlossen.»

«Man kann Ihnen Ihr Geld und Ihre Papiere stehlen, wenn Sie nicht abschließen.»

«Das kann man auch, wenn ich abschließe.»

«Das ist wahr. Trotzdem – es ist dann nicht ganz so einfach.»

Joan Madou warf ihren Mantel und ihre Baskenmütze auf das Bett und sah Ravic an. Ihre Augen waren hell und groß in dem blassen Gesicht. Sie stand einen Augenblick so da. Dann begann sie in dem kleinen Raum hin und her zu gehen, die Hände in den Taschen ihrer Jacke, mit langen Schritten.

Ravic sah sie aufmerksam an. Sie hatte plötzlich Kraft und eine ungestüme Grazie, und das Zimmer schien viel zu eng für sie. Es klopfte. Der Portier brachte den Kognak herein. «Wollen Sie noch etwas essen? Kaltes Huhn. Sandwiches …»

«Nein.» Ravic bezahlte ihn und schob ihn hinaus. Dann schenkte er zwei Gläser ein.

«Hier. Trinken Sie das.»

«Und dann?»

«Dann trinken Sie das nächste.»

«Ich habe das versucht. Es ist nicht gut, betrunken zu sein, wenn man allein ist.»

«Sie müssen etwas zu tun haben.» Ravic zündete sich eine Zigarette an. «Schade, daß wir Morosow nicht getroffen haben. Ich wußte nicht, daß er heute seinen freien Tag hatte. Gehen Sie morgen abend hin. Gegen neun. Irgend etwas wird er schon für Sie finden. Und wenn es Arbeit in der Küche wäre. Dann sind Sie nachts beschäftigt. Das wollen Sie doch?»

«Ja.»

Joan Madou hörte auf, hin und her zu gehen. Sie trank das Glas Kognak und setzte sich auf das Bett. «Ich bin draußen herumgegangen jede Nacht. Solange man geht, ist alles besser. Ich habe oft genug darauf gewartet, daß wenigstens einer zu mir spricht!»

Sie warf das Haar zurück und nahm das Glas, daß Ravic ihr gab.

«Ich weiß nicht, warum ich davon spreche. Ich will es gar nicht. Vielleicht, weil ich stumm war all die Tage.»

«Ich trinke», sagte Ravic. «Sagen Sie, was Sie wollen. Es ist Nacht. Niemand hört Sie. Ich höre auf mich selbst. Morgen ist alles vergessen.»

Er lehnte sich zurück. An das Fenster klopfte immer noch mit weichen Fingern der Regen. Ich muß schon betrunken sein, dachte Ravic. Früher als sonst, heute. Er hörte nicht auf das, was Joan Madou sprach. Er kannte es und wollte es nicht mehr kennen.

«Danke», sagte Joan Madou.

«Warum?»

«Weil Sie mich sprechen ließen, ohne zuzuhören. Es war gut. Ich brauchte das.»

Ravic nickte. Er sah, daß ihr Glas wieder leer war. «Gut», sagte er.

«Ich werde Ihnen die Flasche hierlassen.»

Er stand auf. Ein Zimmer. Eine Frau. Nichts weiter. Ein blasses Gesicht, in dem nichts mehr leuchtete. «Wollen Sie gehen?» fragte Joan Madou.

«Hier ist die Adresse Morosows. Sein Name, damit Sie ihn nicht vergessen. Morgen abend um neun.» Ravic schrieb es auf einen Rezeptblock. Dann riß er das Blatt ab und legte es auf den Koffer.

Joan Madou war aufgestanden. Sie griff nach ihrem Mantel und ihrer Mütze. Ravic sah sie an. «Ich will nur nicht hierbleiben. Nicht jetzt. Ich will noch irgendwo herumgehen.»

«Warum bleiben Sie nicht hier?» «

Es ist bald Morgen. Wenn ich zurückkomme, wird es Morgen sein. Dann ist es einfacher.» Ravic ging zum Fenster. Es regnete immer noch.

«Kommen Sie», sagte er. «Wir trinken noch ein Glas, und Sie legen sich schlafen. Das ist kein Wetter für Spaziergänge.»

Er griff nach der Flasche. Joan Madou war plötzlich dicht neben ihm. «Laß mich nicht hier», sagte sie «Laß mich nicht allein hier, nur heute nicht. Ich kann jetzt nicht allein sein.»

Ravic stellte die Flasche hin.

«Ich kann hier schlafen. Es hat keinen Zweck, noch anderswo hinzugehen. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Muß morgen um neun operieren. Kann ebenso gut hier schlafen wie bei mir.»

Sie stand noch immer dicht neben ihm.

«Ich muß um halb acht ’raus.»

«Das macht nichts. Ich werde aufstehen und Frühstück für Sie machen, alles …»

«Sie werden gar nichts tun», sagte Ravic. «Ich werde frühstücken im nächsten Café wie ein vernünft iger Arbeiter; Kaffee mit Croissants. Alles andere kann ich in der Klinik machen. Wird nicht schlecht sein, Eugenie um ein Bad zu fragen. Gut, bleiben wir hier. Zwei verlorene Seelen im November. Sie nehmen das Bett. Wir brauchen noch ein paar Sachen, Kissen, Decke und so was.»

«Ich kann klingeln.» «Das kann ich auch.» Ravic suchte nach dem Knopf. «Besser, ein Mann macht das.»

Der Portier kam schnell. Er hatte eine zweite Kognakflasche in der Hand. «Sie überschätzen uns», sagte Ravic. «Herzlichen Dank. Wir gehören zur Nachkriegsgeneration. Eine Decke, ein Kissen und etwas Leinen. Ich muß hier schlafen. Zu kalt und zu viel Regen draußen. Ich bin gerade zwei Tage aus dem Bett nach einer schweren Lungenentzündung. Können Sie das machen?»

«Selbstverständlich, mein Herr. Dachte mir schon so etwas.»

«Gut.» Ravic zündete sich eine Zigarette an.

«Ich werde auf den Korridor gehen. Schuhe ansehen vor den Türen. Ein alter Sport von mir. Ich laufe nicht weg», sagte er, als er den Blick von Joan Madou sah. « Ich lasse meinen Mantel nicht im Stich.»

Der Portier kam mit den Sachen. Er stoppte, als er Ravic im Korridor stehen sah. «Das findet man selten», sagte er.

«Ich tue das auch selten. Nur an Geburtstagen und Weihnachten. Geben Sie mir die Sachen. Ich nehme sie mit hinein. Was ist denn das da?»

«Eine Wärmflasche. Wegen Ihrer Lungenentzündung.»

«Danke. Aber ich wärme meine Lungen mit Kognak.» Ravic zog ein paar Scheine aus der Tasche.

«Mein Herr, Sie haben sicher keine Pyjamas. Ich kann Ihnen ein Paar geben.»

«Danke, Bruder.» Ravic sah den Alten an. «Sie würden mir sicher zu klein sein.»

«Im Gegenteil. Sie werden Ihnen passen. Es sind ganz neue. Ein Amerikaner hat sie mir einmal geschenkt. Dem hatte sie eine Dame geschenkt. Ich trage so etwas nicht. Ich trage Nachthemden. Sie sind ganz neu, mein Herr.»

«Gut, bringen Sie sie herauf. Wir können sie ja mal ansehen.» Ravic wartete im Korridor.

Der Portier brachte die Pyjamas. Sie waren Prachtstükke. Die Pyjamas waren neu. Sie waren sogar noch in dem Karton des Magazin du Louvre, in dem sie gekauft waren. «Schade», sagte Ravic. «Ich hätte gern die Dame gesehen, die sie ausgesucht hat.»

«Sie können sie haben für diese Nacht. Sie brauchen sie nicht zu kaufen, mein Herr.Freut mich, daß Sie Ihnen gefallen. Gute Nacht, mein Herr. »

«Wecken Sie mich um halb acht. Klopfen Sie nur leise an. Ich höre es schon. – Gute Nacht.»

«Sehen Sie », sagte Ravic zu Joan Madou und zeigte die Pyjamas. «Ein Kostüm für einen Weihnachtsmann. Dieser Portier ist ein Zauberer. Ich werde die Sachen sogar anziehen. Er ordnete die Decken auf der Chaiselongue. Es war ihm gleichgültig, wo er schlief, in seinem Hotel oder hier. Er goß ein Glas voll und stellte die Flasche auf den Boden. «Salute!»

«Salute! Und danke!»

«Das ist in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht viel Lust, durch den Regen zu gehen.»

«Regnet es noch?»

«Ja.»

Das leise Klopfen kam von draußen durch die Stille.

«Gute Nacht zum Trinken.»

«Ja – und eine schlechte, allein zu sein.»

Ravic schwieg eine Weile.

«Daran haben wir uns alle gewöhnen müssen», sagte er dann.

«Warum bleiben Sie in Paris, wenn Sie niemand hier kennen?» fragte Ravic. Er fühlte, daß er schläfrig wurde.

«Ich weiß nicht. Wohin soll ich sonst gehen?»

«Haben Sie nichts, wohin Sie zurückgehen können?»

«Nein. Man kann auch nirgendwohin zurückgehen.»

«Weshalb sind Sie nach Paris gekommen?» fragte Ravic.

Joan Madou antwortete nicht. Er glaubte schon, sie sei eingeschlafen. «Raczinsky und ich kamen nach Paris, weil wir uns trennen wollten», sagte sie dann. Ravic hörte es, ohne überrascht zu sein.

«Warum waren Sie dann so verzweifelt?» fragte Ravic.

«Weil er tot war! Tot! Plötzlich nicht mehr da!» Weil er dich allein gelassen hat, bevor du dafür bereit warst.

Ravic wollte schlafen. Morgen mußte er operieren. Dies alles ging ihn nichts mehr an. Er stellte das leere Glas auf den Boden neben die Flasche.

6

Lucienne Martinet saß am Fenster, als Ravic hereinkam. «Wie ist das» fragte er, «so zum erstenmal aus dem Bett zu sein?»

Das Mädchen sah ihn an und dann hinaus in den grauen Nachmittag und wieder zurück zu ihm. «Kein gutes Wetter heute», sagte er.

«Doch», erwiderte sie. «Für mich schon.»

«Warum?»

«Weil ich nicht ’raus muß.»

Sie saß in ihrem Sessel, einen billigen baumwollenen Kimono um die Schultern gezogen, ein schmales, unansehnliches Wesen mit schlechten Zähnen – aber für Ravic war sie im Augenblick schöner als Trojas Helena. Sie war ein Stück Leben, das er mit seinen Händen gerettet hatte. Es war nichts, um besonders stolz zu sein; eine hatte er kurz vorher verloren. Die nächste verlor er vielleicht wieder; und am Ende verlor man sie alle und sich selbst auch. Aber diese hier war für den Augenblick gerettet.

Sie blickte durch das Fenster. «Schade, daß es nicht mehr regnet. Gestern war es besser. Da regnete es in Strömen.» Ravic setzte sich ihr gegenüber auf die Fensterbank. Merkwürdig, dachte er. Man erwartet immer, Menschen müßten glücklich sein, wenn sie am Leben geblieben sind. Sie sind es fast nie. Diese hier ist es auch nicht. Ein kleines Wunder ist geschehen, und alles, was sie daran interessiert, ist, daß sie nicht durch den Regen gehen muß. «Wie sind Sie gerade hierher, in die Klinik, gekommen, Lucienne?» fragte er.

Sie sah ihn vorsichtig an. «Eine Bekannte hat es mir gesagt.»

«Was für eine Bekannte?»

Das Mädchen antwortete nicht sofort.

«Eine Bekannte, die auch hier war. Ich habe sie hierhergebracht, bis vor die Tür.»

«Wann war das?»

«Eine Woche bevor ich kam.»

«War es die, die während der Operation gestorben ist?»

«Ja.»

«Und trotzdem sind Sie hierhergekommen?»

«Ja», sagte Lucienne gleichgültig. «Warum nicht?»

Ravic sagte nicht, was er sagen wollte. Er sah das kleine kalte Gesicht an, das einmal weich gewesen war und das das Leben so rasch hart gemacht hatte. «Waren Sie vorher auch bei derselben Hebamme?» fragte er.

Lucienne antwortete nicht. «Oder bei demselben Arzt? Sie können es mir ruhig sagen. Ich weiß ja nicht, wer es ist.»

«Marie war zuerst da. Eine Woche früher. Zehn Tage früher.»

«Und Sie sind später hingegangen, trotzdem Sie wußten, was Marie passiert war?»

Lucienne hob die Schultern. «Was sollte ich machen? Ich mußte es riskieren. Ein Kind … was sollte ich mit einem Kind?» Sie sah aus dem Fenster. «Wie lange muß ich noch hierbleiben, Doktor?»

«Ungefähr zwei Wochen.»

«Zwei Wochen noch?»

«Das ist nicht lange. Warum?»

«Es kostet und kostet…»

«Vielleicht können wir es ein paar Tage früher machen.»

«Glauben Sie, daß ich es abzahlen kann? Ich habe nicht genug Geld. Es ist teuer, jeden Tag dreißig Frank.»

«Wer hat Ihnen denn das gesagt?»

«Die Schwester.»

«Welche? Eugenie, natürlich …»

«Ja. Sie sagte, die Operation und die Verbände wären noch extra. Ist das sehr teuer?»

«Die Operation haben Sie schon bezahlt.»

«Die Schwester sagt, es wäre längst nicht genug gewesen.»

«Das weiß die Schwester nicht so genau, Lucienne. Da fragen Sie besser später Doktor Veber.»

«Ich möchte es gern bald wissen.»

«Warum?»

«Ich kann es mir dann besser einteilen, wie lange ich dafür arbeiten muß.» Lucienne blickte auf ihre Hände. Die Finger waren dünn. «Ich muß auch noch einen Monat Zimmermiete zahlen», sagte sie. «Als ich hierherkam, war es gerade der dreizehnte. Am fünfzehnten hätte ich kündigen müssen. Jetzt muß ich noch den Monat bezahlen. Für nichts.»

«Haben Sie nicht jemand, der Ihnen hilft ?»

Lucienne blickte auf. Ihr Gesicht war plötzlich zehn Jahre älter. «Das wissen Sie doch selbst, Doktor! Der war nur ärgerlich. Er hätte nicht gewußt, daß ich so dumm sei. Sonst hätte er nie mit mir angefangen.»

Ravic nickte. So etwas war nichts Neues. «Lucienne», sagte er, «wir können versuchen, von der Frau, die den Eingriff gemacht hat, etwas zu bekommen. Sie war schuld. Sie müssen uns nur ihren Namen geben.»

«Polizei? Nein, da fliege ich selbst ’rein.»

«Ohne Polizei. Wir drohen nur.»

Sie lachte nur. «Von der kriegen Sie damit nichts. Die ist aus Eisen. Dreihundert Frank habe ich ihr bezahlen müssen. Und dafür …» Sie strich ihren Kimono glatt. «Manche Menschen haben eben gar kein Glück», sagte sie .

«Doch», erwiderte Ravic. «Sie hatten eine Menge Glück.»

Er sah Eugenie im Operationssaal. Sie putzte Nickelsachen . Sie war so versunken in ihre Arbeit, daß sie ihn nicht kommen hörte.

«Eugenie», sagte er.

Sie fuhr herum. «Ach Sie! Müssen Sie einen dauernd erschrecken?»

«Ich glaube nicht, daß ich soviel Persönlichkeit habe. Aber Sie sollten die Patienten nicht erschrecken mit Ihren Geschichten über Honorare und Kosten.» «Die Hure hat natürlich sofort geklatscht.»

«Eugenie», sagte Ravic. «Es gibt mehr Huren unter Frauen, die nie mit einem Mann geschlafen haben, als unter denen, die eine schwierige Arbeit daraus machen. Ganz zu schweigen von den Verheirateten. Außerdem hat das Mädchen nicht geklatscht. Sie haben ihm nur den Tag verdorben, das ist alles.»

«Sie sollten heiraten, Eugenie», sagte er. «Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.»

«Herr Ravic», sagte die Schwester. «Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.»

«Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.» Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. «Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?»

«Gottlob nein.»

«Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.»

«Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.»

«Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.»

«Schönes Hotel, die Judenbude.»

Ravic drehte sich um. «Eugenie, nicht alle Flüchtlinge sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.»

Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.

Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war – aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und lief durch den vollen Raum der Tür zu.

Jemand hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um. «Was?» fragte er verständnislos. «Was?»

Es war der Kellner. «Sie haben nicht bezahlt, mein Herr.»

«Was? – Ach so … ich komme zurück …»

Der Kellner wurde rot. «Das gibt es hier nicht! Sie …»

«Hier …»

Ravic riß einen Schein aus der Tasche, warf ihn dem Kellner zu und riß die Tür auf. Er drängte sich an einer Gruppe von Leuten vorbei und stürzte nach rechts, um die Ecke, die Rue La Boissiere entlang.

Jemand schimpft e hinter ihm her. Er ging so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Es ist unmöglich, dachte er, es ist völlig unmöglich, ich bin verrückt, es ist unmöglich! Das Gesicht, dieses Gesicht, es muß eine Ähnlichkeit sein, ein blöder Trick, den meine Nerven mir spielen – es kann nicht in Paris sein, dieses Gesicht, es ist in Deutschland, es ist in Berlin, die Scheibe war verregnet, man konnte nicht deutlich sehen, ich muß mich geirrt haben, bestimmt… Er ging weiter, eilig. An der Kreuzung der Avenue Kléber blieb er stehen. Eine Frau, eine Frau mit einem Pudel, erinnerte er sich plötzlich. Gleich hinterher war der andere gekommen. Die Frau mit dem Pudel hatte er schon längst überholt. Rasch ging er zurück. Als er die Frau mit dem Hund von weitem sah, blieb er an der Bordkante stehen.

Ravic spürte plötzlich, daß er naß von Schweiß war. Er wartete noch einige Minuten – das Gesicht kam nicht. Er musterte die geparkten Autos. Niemand saß darin. Er kehrte wieder um und ging bis zur Untergrundbahn an der Avenue Kleber. Er lief den Eingang hinunter, löste ein Billett und ging den Bahnsteig entlang. Es waren ziemlich viel Leute da. Bevor er durch war, lief ein Zug ein, hielt und verschwand in dem Tunnel. Der Bahnsteig war leer. Langsam ging er zurück in das Bistro. Er setzte sich an den Tisch, an dem er vorher gesessen hatte. Da stand noch ein Glas, halbvoll mit Calvados. Es schien sonderbar, daß es immer noch da stand … Der Kellner sah ihn «Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich wußte nicht …»

«Gut, gut», sagte Ravic. «Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.»

«Ein anderes?» Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. «Wollen Sie dieses nicht erst trinken?»

«Nein. Bringen Sie mir ein anderes.» Der Kellner nahm das Glas. «Ist er nicht gut?»

«Doch. Ich will nur ein anderes haben.»

«Gut, mein Herr.»

Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging … Er erinnerte sich an Berlin. Ein Sommerabend 1934 – das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das blendende Licht nackter elektrischer Birnen; ein Tisch mit roten Flecken und Riemen zum Festschnallen; Schmerz, Qual, das fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Männer in Uniform, die sie hielten – und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde. Sybil wurde drei Tage später tod gefunden. ..

Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. «Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.»

«Gut, gut. Danke.»

Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados. Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er vor ein paar Minuten gesehen hatte – es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Er rief den Kellner und zahlte.

Er saß mit Morosow in der Katakombe.

«Du glaubst nicht, daß er es war?» fragte Morosow.

«Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.»

«Pech, daß du im Bistro warst.»

«Gespenster», sagte Ravic. «Dachte, ich wäre drüber weg.»

«Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die für meinen Vater.»

Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig. «Du wirst sie kriegen», sagte er.

«Ja.»Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft . Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht schießen und nicht stechen.»

«Ich auch nicht.»

Sie saßen eine Zeitlang. «Wollen wir eine Partie Schach spielen?» fragte Morosow.

«Ja»

Sie machten zwei Spiele. Dann stand Morosow auf. «Ich muß gehen, Türen öffnen. Warum schaust du eigentlich nie mehr bei uns herein?»

«Ich weiß nicht.»

«Wie ist es mit morgen abend?»

«Morgen abend kann ich nicht. Da gehe ich essen. Ins Maxime.»

Morosow grinste. «Für einen illegalen Flüchtling treibst du dich eigentlich ziemlich frech in den elegantesten Lokalen von Paris herum.»

«Das sind die einzigen, in denen man völlig sicher ist, Boris. Wer sich wie ein Flühtlinge benimmt , wird bald erwischt»

«Stimmt. Mit wem gehst du denn?»

«Mit Kate Hegström.»

Morosow tat einen Pfiff . «Kate Hegström», sagte er. «Ist sie zurück?»

«Sie kommt morgen früh. Von Wien.»

«Gut. Dann sehe ich dich also doch später bei uns.»

«Vielleicht auch nicht.»

Morosow winkte ab. «Unmöglich! Die Scheherazade ist Kate Hegströms Hauptquartier, wenn sie in Paris ist.»

«Diesmal ist es anders. Sie kommt, um in die Klinik zu gehen. Wird in den nächsten Tagen operiert.» «Dann wird sie gerade kommen. Du verstehst nichts von Frauen.Oder willst du nicht, daß sie kommt?»

«Warum nicht?»

«Mir fällt gerade ein, daß du nicht bei uns warst, seit du mir damals die Frau geschickt hast. Joan Madou. Scheint mir doch kein reiner Zufall zu sein.»

«Unsinn. Ich weiß nicht einmal, daß sie noch bei euch ist. Konntet ihr sie gebrauchen?»

«Ja. Sie war zuerst im Chor. Jetzt hat sie eine kleine Solonummer. Zwei oder drei Lieder.»

«Hat sie sich inzwischen einigermaßen gewöhnt?»

«Natürlich. Warum nicht?»

«Sie war verdammt verzweifelt.»

«Was?» fragte Morosow und lächelte. «Ravic», erwiderte er väterlich mit einem Gesicht, in dem plötzlich alle Erfahrung der Welt waren. «Rede keinen Unsinn. Das ist ein ziemlich großes Luder.»

«Was?» sagte Ravic.

«Ein Luder. Keine Hure[2]. Ein Luder. Wenn du ein Russe wärest, würdest du das verstehen.»

Ravic lachte. «Dann muß sie sich sehr geändert haben. Servus, Boris! »

7

«Wann muß ich in der Klinik sein, Ravic?» fragte Kate Hegström.

«Wann Sie wollen. Morgen, übermorgen, irgendwann. Es kommt auf einen Tag nicht an.»

Sie stand vor ihm, schmal, selbstsicher, hübsch und nicht mehr ganz jung.

Ravic hatte ihr vor zwei Jahren den Blinddarm herausgenommen. Es war seine erste Operation in Paris gewesen. Sie hatte ihm Glück gebracht. Er hatte seitdem gearbeitet und keine Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt. Sie war für ihn eine Art Glücksbringer.

«Diesmal habe ich Angst», sagte sie. «Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe Angst.»

«Das brauchen Sie nicht. Es ist eine Routinesache.»

Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Draußen lag der Hof des Hotels Lancaster. Eine mächtige alte Kastanie reckte ihre alten Arme aufwärts zum nassen Himmel. «Dieser Regen», sagte sie. «Ich bin in Wien weggefahren, und es regnete. Ich bin in Zürich aufgewacht, und es regnete. Und jetzt hier …» Sie schob die Vorhänge zurück. «Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich werde alt.»

«Das glaubt man immer, wenn man es nicht ist.»

«Ich sollte anders sein. Ich bin vor zwei Wochen geschieden worden. Ich sollte froh sein. Aber ich bin müde.

Der scharmante Faulenzer, den ich vor zwei Jahren geheiratet hatte, wurde plötzlich ein brüllender Sturmführer, der den alten Professor Bernstein Straßen waschen ließ und dabeistand und lachte. Bernstein, der ihn ein Jahr vorher von einer Nierenentzündung geheilt hatte. Angeblich, weil das Honorar zu hoch gewesen war.

«Das Honorar, das ich bezahlt hatte, nicht er.»

«Seien Sie froh, daß Sie ihn los sind.»

«Er verlangte zweihundertfünfzigtausend Schilling für die Scheidung.»

«Billig», sagte Ravic. «Alles, was man mit Geld abmachen kann, ist billig.»

«Er hat nichts bekommen.Ich habe ihm gesagt, was ich über ihn, seine Partei und seinen Führer denke – und daß ich das von nun an öffentlich tun würde. Er drohte mir mit Gestapo und Konzentrationslager. Ich habe ihn ausgelacht. Ich sei immer noch Amerikanerin und unter dem Schutz der Gesandtschaft . Mir würde nichts geschehen, aber ihm, weil er mit mir verheiratet sei.»

Sie lachte. «Daran hatte er nicht gedacht. Er machte von da an keine Schwierigkeiten mehr.»

Gesandtschaft, Schutz, Protektion, dachte Ravic. Das war wie von einem anderen Planeten. «Mich wundert, daß Bernstein noch praktizieren darf», sagte er.

«Er darf nicht mehr. Er hat mich heimlich untersucht, als ich die erste Blutung hatte. Gut, daß ich kein Kind bekommen darf. Ein Kind von einem Nazi …»

Sie schüttelte sich.

Ravic stand auf. «Ich muß jetzt gehen. Veber wird Sie nachmittags noch einmal untersuchen. Nur der Form wegen.»

«Ich weiß. Trotzdem – ich habe Angst diesmal.»

«Aber Kate – es ist doch nicht das erstemal. Einfacher als der Blinddarm, den ich Ihnen vor zwei Jahren herausgenommen habe.» Ravic nahm sie leicht um die Schultern. «Sie waren meine erste Operation, als ich nach Paris kam. Das ist etwas wie eine erste Liebe. Ich werde schon aufpassen. Außerdem haben mir Glück gebracht. Das sollen Sie auch weiter.»

«Ja», sagte sie und sah ihn an.

«Gut. Adieu, Kate. Ich hole Sie abends um acht Uhr ab.»

«Adieu, Ravic. Ich gehe jetzt, mir ein Abendkleid bei Mainbocher kaufen. Ich muß diese Müdigkeit loswerden. Und das Gefühl, in einem Spinngewebe zu sitzen. Dieses Wien», sagte sie mit einem bitteren Lächeln, «die Stadt der Träume …»

Ravic fuhr mit dem Aufzug herunter und ging an der Bar vorbei durch die Halle. Im zweiten Stock des «International» war großer Betrieb. Einige Zimmer stand offen, das Mädchen und der Valet rannten hin und her und die Besitzerin dirigierte alles vom Korridor her. Ravic kam die Treppe herauf. «Was ist los?» fragte er.

Die Besitzerin war eine kräftige Frau mit mächtigem Busen und einem zu kleinen Kopf mit kurzen, schwarzen Locken. «Die Spanier sind doch fort», sagte sie.

«Das weiß ich. Aber wozu räumen Sie so spät die Zimmer noch auf?»

«Wir brauchen sie morgen früh.»

«Neue deutsche Emigranten?»

«Nein, spanische.»

«Spanische?» fragte Ravic, der einen Augenblick nicht verstand, was sie meinte. « Als Spanien dann republikanisch wurde, gingen sie zurück, und die Monarchisten und Faschisten kamen her. Jetzt gehen die letzten davon zurück, und die Republikaner kommen wieder. Die, die noch übrig sind.»

Boris stand in seiner Uniform vor der Scheherazade und öffnete die Tür des Taxis. Ravic stieg aus. Morosow lächelte an. «Ich dachte, du wolltest nicht kommen?» «Das wollte ich auch nicht.»

«Ich habe ihn gezwungen, Boris.» Kate Hegström umarmte Morosow. «Gottlob, daß ich wieder zurück bin bei euch!»

«Sie haben eine russische Seele, Katja. Der Himmel weiß, warum Sie in Boston geboren werden mußten. Komm, Ravic.» Morosow stieß die Tür zum Eingang auf. «Der Mensch ist groß in seinen Vorsätzen, aber schwach in der Ausführung[3]. Darin liegt unser Elend und unser Scharm.»

Die Scheherazade war wie ein kaukasisches Zelt eingerichtet. Die Kellner waren Russen in roten Tscherkessenuniformen. Das Orchester bestand aus russischen und rumänischen Zigeunern. Man saß an kleinen Tischen, die vor einer Bankette standen, die an der Wand entlanglief. Der Raum war dunkel und ziemlich besetzt.

«Was wollen Sie trinken, Kate?» fragte Ravic.

«Wodka. Und die Zigeuner sollen spielen. Ich habe genug vom ›Wiener Wald‹ im Parademarsch.» Sie zog zog die Füße ohne Schuhe auf die Bankette. «Ich bin jetzt nicht mehr müde, Ravic», sagte sie. «Ein paar Stunden Paris haben mich schon verändert. Aber mir ist immer noch, als wäre ich aus einem Konzentrationslager entkommen. Können Sie sich das vorstellen?»

Ravic sah sie an. «So ungefähr», sagte er.

Der Tscherkesse brachte eine kleine Flasche Wodka und die Gläser. Ravic füllte sie und gab eines an Kate Hegström. Sie trank es rasch und durstig und stellte es zurück. Dann sah sie sich um. Das weiche Licht unter der Tischplatte erleuchtete ihr Gesicht. «Warum, Ravic? Nachts wird alles farbiger. Nichts erscheint einem mehr schwer, man glaubt, alles zu können, und was man nicht erreichen kann, füllt man mit Träumen aus. Warum?»

Er lächelte. «Wir haben unsere Träume, weil wir ohne sie die Wahrheit nicht ertragen könnten.»

Das Orchester begann zu stimmen. «Sie sehen nicht so aus, als ob Sie sich mit Träumen betrügen würden», sagte Kate.

«Man kann sich auch mit der Wahrheit betrügen. Das ist ein noch gefährlicherer Traum.»

Das Orchester fing an zu spielen. Der Zigeuner kam an den Tisch.

Kate Hegström fühlte die Melodie auf ihrer Haut. Der Zigeuner verbeugte sich. Ravic schob ihm unter dem Tisch einen Schein in die Hand. Kate Hegström rührte sich in ihrer Ecke. «Waren Sie einmal glücklich, Ravic?»

«Oft.»

«Das meine ich nicht. Ich meine richtig glücklich. Atemlos, besinnungslos, mit allem, was Sie haben.»

«Oft , Kate», sagte er und meinte etwas ganz anderes und wußte, auch das war es nicht.

«Sie wollen mich nicht verstehen. Oder nicht darüber sprechen. Wer singt da jetzt mit dem Orchester?»

«Ich weiß es nicht. Ich war lange nicht hier.»

«Man kann die Frau von hier nicht sehen. Sie ist nicht mit den Zigeunern. Sie muß irgendwo an einem Tisch sitzen.»

«Dann ist es wahrscheinlich ein Gast. Das passiert hier oft .»

«Eine sonderbare Stimme», sagte Kate Hegström. «Traurig und rebellisch in einem.»

«Das sind die Lieder.»

«Oder ich bin es. Verstehen Sie, was sie singt?»

«Ja wass loubill» – «ich habe dich geliebt. Ein Lied von Puschkin.»

«Können Sie Russisch?»

«Nur so viel, wie Morosow mir beigebracht hat. Meistens Schimpfwörter. Russisch ist eine hervorragende Sprache für Schimpfwörter»

«Sie sprechen nicht gern über sich?»

«Ich denke sogar nicht gern über mich nach.»

Sie saß eine Weile und schwieg.

«Das ist aber nicht mehr russisch», sagte sie dann und horchte zu der Musik hinüber.

«Nein. Das ist italienisch. Santa Lucia Luntana.»

Der Scheinwerfer wanderte vom Geiger zu einem Tisch neben dem Orchester hinüber. Ravic sah die Frau jetzt, die sang. Es war Joan Madou. Sie saß allein an dem Tisch, einen Arm aufgestützt, und blickte vor sich hin, als wäre sie in Gedanken und außer ihr niemand da. Ihr Gesicht war sehr bleich in dem weißen Licht. Es hatte nichts mehr von dem verwischten Ausdruck, den er kannte. Es war plötzlich von einer aufregenden, verlorenen Schönheit. Er erinnerte sich, er hatte sie einmal schon so gesehen– nachts in ihrem Zimmer . Jetzt war es ganz da, und es war noch mehr da.

«Was ist los, Ravic?» fragte Kate Hegström.

Er wandte sich um. «Nichts. Ich kenne nur das Lied. »

«Erinnerungen.»

«Nein. Ich habe keine Erinnerungen.»

Er sagte es heftiger, als er wollte. Kate Hegström sah ihn an. «Manchmal möchte ich wissen, was mit Ihnen los ist, Ravic.»

«Nicht mehr als mit jedem anderen. Hier ist ein neuer Wodka für Sie, Kate. »

Das Orchester begann einen Blues zu spielen. Es spielte Tanzmusik ziemlich schlecht. Ein paar Gäste begannen zu tanzen. Joan Madou stand auf und ging dem Ausgang zu. Sie ging, als wäre das Lokal leer. Ravic fiel plötzlich ein, was Morosow über sie gesagt hatte. Sie kam ziemlich nahe an seinem Tisch vorbei. Es schien ihm, als hätte sie ihn gesehen; aber ihr Blick glitt gleich darauf gleichgültig über ihn hinweg, und sie verließ den Raum.

«Kennen Sie die Frau?» fragte Kate Hegström, die ihn beobachtet hatte.

«Nein.»

8

«Sehen Sie das, Veber?» fragte Ravic. «Hier – und hier – und hier…»

Ravic richtete sich auf. «Krebs», sagte er. «Klarer, Krebs! Das ist die verfluchteste Operation, die ich seit langem gemacht habe. Aber wir können nicht von unten arbeiten, müssen schneiden, und plötzlich finden wir Krebs.»

Veber sah ihn an. «Was wollen Sie machen?»

«Wir müssen weiterschneiden. Den Hysterektomieschnitt[4] machen», sagte Ravic. «Keinen Sinn, was anderes zu tun. Das verdammte ist nur, daß sie es nicht weiß. Wie ist der Puls?» fragte er die Narkoseschwester.

«Regelmäßig. Neunzig.»

«Blutdruck?»

«Hundertzwanzig.»

«Gut.» Ravic sah auf den Körper Kate Hegströms, der auf dem Operationstisch lag. «Sie müßte es vorher wissen. Sie müßte einverstanden sein. Wir können nicht so einfach in ihr herumschneiden. – Oder können wir?»

«Nach dem Gesetz nicht. Sonst … wir haben ja schon angefangen.»

«Das mußten wir. Die Ausschabung[5] war nicht von unten zu machen. Dies hier ist eine andere Operation. Eine Gebärmutter herausnehmen, ist etwas anderes als eine Auskratzung[6]

«Ich glaube, sie vertraut Ihnen, Ravic.»

«Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ob sie einverstanden wäre …?» Messer, Eugenie.» Er machte den Schnitt bis zum Nabel .

«Sehen Sie hier, Veber … und hier …. Die dicke, harte Masse. Es ist schon zu weit.»

Veber starrte auf die Stelle, die Ravic ihm zeigte. «Sehen Sie das hier», sagte Ravic. «Wir können die Arterien nicht mehr abklammern. Hoffnungslos …»

Er löste vorsichtig ein schmales Stück los. «Ist Boisson im Laboratorium?»

«Ja», sagte die Krankenschwester. «Er wartet schon.»

«Gut. Schicken Sie es hinüber. Wird nicht länger als zehn Minuten dauern.»

«Sagen Sie ihm, er soll telefonieren», sagte Veber. «Sofort. Wir warten mit der Operation.»

Ravic richtete sich auf.

«Wie ist der Puls?»

«Fünfundneunzig.»

«Blutdruck?»

«Hundertfünfzehn.»

«Gut. Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist nichts mehr zu tun.»

Veber nickte.

«Zunähen», sagte Ravic. «Das Kind wegnehmen, das ist alles. Zunähen und nichts sagen.»

Er stand einen Moment und sah auf den Körper unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie frischer Schnee. Kate Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll von Willen zum Leben – zum Tode verurteilt durch Krebs , der ihre Zellen zerstört hatte. Er beugte sich wieder über den Körper. «Wir müssen ja noch …»

Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch ein Leben heran. Verurteilt mit ihm. Irgend etwas, das einmal spielen wollte in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder, Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen … vorsichtig ging das Instrument– fand den Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus – vorbei. Nichts mehr als etwas totes Fleisch und Blut.

Das Telefon klingelte von unten. Veber blickte zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam herein. «Ja», sagte Veber.

«Krebs.»

Ravic nickte und begann weiterzuarbeiten. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente. Er begann zu nähen. Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken.

«Fertig.»

Eugenie kurbelte mit dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade, dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich, oft , ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. – Er sah auf die Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und Fabriken, und gesunde Leute beeilen sich.

Die beiden Schwestern schoben den flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.

«Ihre Zigarette», sagte Veber, der sich neben ihm an dem zweiten Becken wusch.

«Sie verbrennen sich die Lippen.»

«Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?»

«Sie», erklärte Veber.

«Wir müssen ihr erklären, warum wir geschnitten haben. Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen, was es wirklich war.»

«Es wird Ihnen schon etwas einfallen», sagte Veber.

«Sie haben ja bis heute abend Zeit.Sie weiß, daß Sie sie operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur unruhig werden, wenn ich käme.»

«Stimmt.»

«Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit entwickeln konnte.»

«Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.»

«Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine Zyste oder ein Myom.»

«Ja», sagte Ravic. «Irgendeine Zyste oder ein Myom.»

Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.

«Hat sie irgend etwas gefragt?»

«Nein», sagte die rotbackige Schwester.

«Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an.»

Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. «Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.»

Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen. Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. «Einen fine.» Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens.

Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall – eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte –; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot – und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte– er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen … Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr. Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er. Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. «Komm mit», hatte er gesagt. «In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.» Er hatte ihn angestarrt. Wie konnte es sein? Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: «Du kommst mit. Du wirst heute fressen und saufen.» Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. «Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? – Nein. – Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?» – Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky.

«Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles. Verstehst du nun?» – «Ja, aber ich kann nicht.» – «Halt’s Maul, du kannst! Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.» Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst – tu alles dann –; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.

Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.

Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch schwatzten immer noch über ihre Regierung. Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um. Was sollte das alles? Er winkte dem Kellner und zahlte.

Die Scheherazade war dunkel, als er eintrat. Die Zigeuner spielten, und nur das Licht des Scheinwerfers lag voll auf dem Tisch neben dem Orchester, an dem Joan Madou saß. Ravic blieb am Eingang stehen. Einer der Kellner kam heran und rückte ihm einen Tisch zurecht. Aber Ravic blieb stehen und sah zu Joan Madou hinüber.

«Wodka?» fragte der Kellner.

«Ja. Eine Karaffe.»

Ravic setzte sich hin. Er goß sich ein Glas Wodka ein und trank es rasch. Er wollte loswerden, was er draußen gedacht hatte. Er sah, daß er an demselben Tisch saß, an dem er vor zwei Tagen mit Kate Hegström gesessen hatte. Nebenan wurde ein anderer Tisch frei. Er rückte nicht hinüber. Es war gleichgültig, ob er an diesem Tisch saß oder am nächsten – es half Kate Hegström nicht.

Was hatte Veber einmal gesagt? Weshalb regen Sie sich auf, wenn eine Operation hoffnungslos ist? Man tut, was man kann, und geht nach Hause. Er hörte die Stimme Joan Madous vom Orchester her. Kate Hegström hatte recht gehabt – es war eine erregende Stimme.

«Wie gefällt sie Ihnen?»

«Wer?» Ravic stand auf. Der Manager stand neben ihm. Er machte eine Bewegung zu Joan Madou hinüber.

«Gut. Sehr gut.»

Der Manager ging weiter. Ravic blickte ihm nach und griff nach seinem Glas. Das Orchester begann einen Tango zu spielen.

Joan Madou erhob sich und ging zwischen den Tischen hindurch. Sie mußte einige Male warten, weil die Paare zur Tanzfläche gingen. Ravic sah sie an, und sie sah ihn an. Ihr Gesicht verriet keine Überraschung. Sie ging gerade auf ihn zu. Er stand auf und schob den Tisch beiseite. Ein Kellner kam, um ihm zu helfen. «Danke», sagte er, «das mache ich schon allein. Wir brauchen nur noch ein Glas.»

Er rückte den Tisch wieder zurecht und füllte das Glas, das der Kellner brachte. «Das ist Wodka hier», sagte er. «Ich weiß nicht, ob Sie das trinken.»

«Ja. Wir haben es schon einmal getrunken. In der Belle Aurore.»

«Richtig.»

Wir waren auch schon einmal hier, dachte Ravic. Vor einer Ewigkeit. Vor drei Wochen. Jetzt … «Salute», sagte er. Ein Schein flog über ihr Gesicht. Sie lachte nicht; ihr Gesicht wurde nur heller. «Das habe ich lange nicht gehört», sagte sie. «Salute.» Er trank sein Glas aus und sah sie an. Die hohen Brauen, die weit auseinanderstehenden Augen, der Mund – alles, was früher verwischt und einzeln und ohne Zusammenhang gewesen war, hatte sich auf einmal versammelt zu einem hellen, geheimnisvollen Gesicht, einem Gesicht, dessen Geheimnis seine Offenheit war. Es versteckte nichts und gab dadurch nichts preis. Warum habe ich früher das nicht gesehen, dachte er. Aber vielleicht war es damals nicht da.

«Haben Sie eine Zigarette?» fragte Joan Madou.

«Nur die algerischen. Die mit dem schweren, schwarzen Tabak.»

Ravic wollte dem Kellner winken. «Sie sind nicht zu schwer», sagte sie. «Sie haben mir schon einmal eine gegeben. Am Pont de l’Alma.»

«Das ist wahr.»

Es ist wahr, und es ist nicht wahr, dachte er. Damals warst du nicht du; da ist noch manches andere zwischen uns gewesen, und plötzlich ist nichts mehr davon wahr. «Ich war schon einmal hier», sagte er.

«Vorgestern.»

«Ich weiß es. Ich habe Sie gesehen.»

Sie fragte nicht nach Kate Hegström. Sie saß ruhig und entspannt in der Ecke und rauchte. Dann trank sie, ruhig und langsam. Sie hatte plötzlich Wärme und eine selbstverständliche, sichere Gelassenheit.

Die Karaffe Wodka war leer. «Wollen wir das weiter trinken?» fragte Ravic.

«Was war es, das Sie mir damals zu trinken gegeben haben?»

«Wann? Hier? Ich glaube, wir haben da eine Menge durcheinander getrunken.»

«Nein. Nicht hier. Am ersten Abend.»

Ravic dachte nach. «Ich weiß es nicht mehr. – War es nicht Kognak?»

«Nein. Es sah aus wie Kognak, aber es war etwas anderes. Ich habe versucht, es zu bekommen, aber ich habe es nicht gefunden.»

«Warum? War es so gut?»

«Nicht deshalb. Es war das Wärmste, was ich je in meinem Leben getrunken habe.»

«Wo haben wir es getrunken?»

«In einem kleinen Bistro in der Nähe des Arc. Man mußte ein paar Stufen hinuntergehen. Es waren Chauffeure da und ein paar Mädchen.»

«Ah, ich weiß. Es wird Calvados gewesen sein. Apfelschnaps aus der Normandie. Haben Sie den schon versucht?»

«Ich glaube nicht.»

Ravic winkte dem Kellner. «Haben Sie Calvados?»

«Nein. Leider nicht.»

«Zu elegant hier dafür. Es wird also Calvados gewesen sein. Schade, daß wir es nicht herausfinden können. Am einfachsten wäre, noch einmal in die Kneipe zu gehen. Aber das können wir ja jetzt nicht.»

«Warum nicht?»

«Müssen Sie nicht hierbleiben?»

«Nein. Ich bin fertig.»

«Gut. Wollen wir gehen?» – «Ja.»

Ravic fand die Kneipe ohne Mühe. Sie war ziemlich leer. Der Kellner hat sie erkannt. Er wischte die Tisch ab. «Ein Fortschritt», sagte Ravic. «Das hat er damals nicht gemacht.»

«Nicht diesen Tisch», sagte Joan. «Den dort.»

Ravic lächelte. «Sind Sie abergläubisch?»

«Manchmal.»

Der Kellner stand neben ihnen. «Stimmt», sagte er. «Damals haben Sie auch hier gesessen.»

«Erinnern Sie sich noch daran?»

«Genau.»

«Sie sollten General werden», sagte Ravic. «Mit so einem Gedächtnis.» «

«Ich vergesse nie etwas.»

«Wissen Sie auch noch, was wir damals getrunken haben?»

«Calvados», sagte der Kellner ohne lange zu denken.

«Gut. Das wollten wir jetzt wieder trinken.»

Ravic wandte sich an Joan Madou.

«Wie einfach sich manchmal Probleme lösen! Jetzt werden wir sehen, ob er auch noch genauso schmeckt.»

Der Kellner brachte die Gläser.

«Doppelte. Sie bestellten damals doppelte Calvados.»

«Wissen Sie auch noch, wie wir angezogen waren?»

«Regenmantel. Die Dame trug ein Béret de Basque.»

«Sie sind zu schade hier. Sie gehören in ein Varieté.»

«War ich doch», erwiderte der Kellner erstaunt.

«Zirkus. Habe ich Ihnen doch erzählt. Haben Sie das denn vergessen?»

«Ja. Zu meiner Schande, ja.»

«Der Herr vergißt leicht», sagte Joan Madou zu dem Kellner. «Er ist ein Künstler im Vergessen. So wie Sie ein Künstler im Nichtvergessen.»

Ravic blickte auf. Sie sah ihn an. Er lächelte.

«Und jetzt wollen wir den Calvados versuchen. – Salute!»

«Salute!»

Der Kellner blieb stehen.

«Was man vergißt, das fehlt einem später im Leben, mein Herr», erklärte er.

Das Thema war für ihn noch nicht erschöpft .

«Richtig. Und was man nicht vergißt, macht es einem zur Hölle.»

«Mir nicht. Es ist ja vorbei. Wie kann es einem da das Leben zur Hölle machen?»

Ravic blickte auf. «Gerade deshalb, Bruder. Aber Sie sind ein glücklicher Mensch, nicht nur ein Künstler. Ist der gleiche Calvados?» fragte er Joan Madou. – «Er ist besser.» Er sah sie an. Eine leichte Wärme stieg ihm in die Stirn. Er wußte, was sie meinte. Sie saß in der kahlen Kneipe, als wäre sie zu Hause. Er sah, daß sie ihr Glas ausgetrunken hatte.

«Alle Achtung», sagte er. «Das war ein doppelter Calvados. Wollen Sie noch einen?»

«Ja. Wenn Sie Zeit haben.»

Warum sollte ich keine Zeit haben, dachte er. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn das letztemal mit Kate Hegström gesehen hatte. Er blickte auf. Ihr Gesicht verriet nichts.

«Ich habe Zeit», sagte er. «Ich muß morgen um neun operieren, das ist alles.»

«Können Sie das, wenn Sie so spät aufbleiben?»

«Ja. Das hat nichts damit zu tun. Es ist Gewohnheit. Ich operiere auch nicht jeden Tag.»

Der Kellner füllte die Gläser nach. Er brachte mit der Flasche eine Schachtel Zigaretten und legte sie auf den Tisch. Es war ein Paket Laurens grün. «Die hatten Sie doch damals auch, wie?» fragte er Ravic triumphierend.

«Keine Ahnung. Sie wissen mehr als ich. Aber ich glaube Ihnen ohne weiteres.»

«Es stimmt», sagte Joan Madou.

«Es waren Laurens grün.»

«Sehen Sie! Die Dame hat ein besseres Gedächtnis als Sie, mein Herr.»

«Das weiß man noch nicht. Auf jeden Fall können wir die Zigaretten brauchen.»

Ravic öffnete das Paket und hielt es ihr hinüber. «Wohnen Sie noch in demselben Hotel?» fragte er.

«Ja. Ich habe nur ein größeres Zimmer genommen.»

Eine Gruppe von Chauffeuren kam herein. Sie setzten sich an den Nebentisch und begannen ein lautes Gespräch.

«Wollen wir gehen?» fragte Ravic. Sie nickte.

Er winkte dem Kellner und zahlte. «Müssen Sie nicht doch noch zurück zur Scheherazade?»

«Nein.»

Er nahm ihren Mantel. Sie zog ihn nicht an. Sie hängte ihn nur über ihre Schultern.

«Dann werden wir Sie jetzt zu Ihrem Hotel bringen», sagte er, als sie draußen vor dem Eingang in dem leise sprühenden Regen standen.

Sie wandte sich langsam zu ihm. «Gehen wir nicht zu dir?» «Ja», sagte er.

«Ich habe auf dich gewartet. Wußtest du das?» fragte sie. – «Nein.»

Ihre Augen glänzten im Widerschein der Laterne. Man konnte hindurchsehen, und sie schienen nirgendwo aufzuhören. «Ich habe dich heute erst gesehen», sagte er. «Das früher warst du nicht.»

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notes

Примечания

1

Unter dem Messer bleiben = sterben

2

Ein Luder. Keine Hure. – Стерва. Не потаскуха.

3

Велик человек в своих намерениях, да слаб в их осуществлении.

4

die Hysterektomieschnitt – гистероэктомия

5

die Ausschabung – выскабливание

6

Но плод выскоблить – это одно, а матку удалить – совсем другое.