Der Zug eilte auf geradem Wege seinem Ziele entgegen. Rücksichtslos durchschnitt er in tiefer Furche die zarten Gewebe der Dämmerung, die geheimnisvoll über das flache Land glitten, Nahes wie Fernes verhüllend.
Dore stand an dem geöffneten Fenster und blickte in die Abendschatten, hinter denen immer häufiger verschwommene, gelbe Lichtflecken die Nähe von menschlichen Wohnstätten verrieten.
Die stille, schwere Luft verkündete die nahende Großstadt. Wie beklemmend sie wirkte, wenn man eine Zeitlang am Meere geatmet hatte. Hier brachte auch der Abend nicht den kühlenden Frieden. Schon fühlte man wieder das Zerren der Nerven, die sich spannten und dehnten, um im engen Kampfgewühl nach Lebensfreude und Erfolg zu greifen.
Welch ein großes Stück Zeit schien zwischen dem Morgen von Heute und dem Jetzt zu liegen. In dem frischen, wilden Wind, der pfeifend das schäumende Meer gegen die Küste peitschte, hatte sich Dore jauchzend als freier Mensch gefühlt. Groß, stark, unbesiegbar von Leid. Hier vor der regungslosen, stauberfüllten Luftwand hatte sie die Empfindung, sich als überflüssiges Etwas in einen überfüllten Riesenkasten zu drängen, wo niemand sie wünschte, keiner ihrer achtete noch bedurfte und eigentlich gar kein Platz für sie vorhanden war.
Sie erbebte, als der Zug die Geschwindigkeit verringerte und langsam in die hellerleuchtete Halle einfuhr.
Aber in dem blinden Lärm der schreienden, rufenden, drängenden Menge, der von dem stoßweisen Pusten der atemlosen Lokomotive überfaucht wurde, fand Dore sich wieder.
Und als sie in dem raschen Wagen neben den klingelnden elektrischen Bahnen durch die schmale, lärmende, stimmenerfüllte Friedrichstraße fuhr, erfaßte sie ein starkes Gefühl der Freude. Sie. spürte in dem tosenden Leben berauschend die eigene Jugend und Kraft.
Der Wagen ließ Lärm und Helle hinter sich und fuhr unter dem spätsommerlichen Laubdach des Tiergartens dahin: Gemächlich, gleichmäßig klappten die Hufe des Pferdes auf dem Asphalt.
Dores Gedanken glitten nach dem Elternhause, das auch ein Punkt dieser weiten Stadt war und doch für Dore in brückenloser Ferne lag. Drei Jahre waren es nun her, daß sie die Tür des Vaterhauses hinter sich geschlossen hatte. Drei Jahre der Arbeit und des Alleinseins.
»Wählet Die Schaubude oder das Vaterhaus,« hatte der Vater ohne Bedenken, ohne Eingehen auf Dores ernste Worte blindlings geschrien. »Die Tochter eines Offiziers als Gauklerin ist noch nicht Sitte.«