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Windschiefe Gestalten

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Adam Karrillon
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Maurus Sterzelweg

»Ich bin des Kommerzienrats einziger Sohn,« sagte der Tertianer Marcellus Sterzelweg, »das heißt, ich habe schon noch einen Bruder, aber der ist bucklig.«

Es verhielt sich wirklich so. Sterzelweg, der Großindustrielle, hatte nur zwei Söhne, von denen der eine sein Stolz, der andere sein täglicher Kummer war. Marcellus, der ältere, war gerade gewachsen wie eine Schwarzwaldtanne. Maurus war mit einem Rucksack zwischen den Schulterblättern auf die Welt gekommen und klein und niedrig geblieben wie eine Zirbelkiefer.

Das Schicksal der Brüder war mit der Form ihrer Wirbelsäulen von vornherein bestimmt. Marcellus war der Liebling beider Eltern. Er wurde gekämmt und herausgeputzt, sobald Besuch zu erwarten war, und dann von einem Knie aufs andere geschoben wie eine geschätzte Truhe. Maurus wurde wie ein Wäschekorb aus dem Wege geräumt und in die Mägdekammer gestopft.

Wenn ein Freund des Hauses die Bemerkung wagte: »Nicht wahr, Sie haben doch noch einen Sohn, gnädige Frau?«, so erhielt er die Antwort: »Schon recht, aber er ist im Augenblick nicht so, daß man ihn sehen lassen kann. Er ist noch nicht konfirmiert, und außerdem soll er morgen geimpft werden.«

Wie oft dem kleinen Maurus der Empfang dieser beiden Gnadenmittel angedichtet wurde, wird sich kaum noch durch einen Historiker feststellen lassen. Sicher ist nur, daß der Bucklige nach der Absolvierung der Volksschule aushilfsweise von seinem Vater zu allerlei wichtigen Handlungen im Geschäft Verwendung fand. Er durfte die Tintenfässer der Schreibpulte füllen, für neues Löschpapier sorgen, den Ofen heizen und was dergleichen Vorübungen mehr noch sind, durch die man sich zum Bureaudiener hinaufarbeitet. Als sein Bruder Marcellus die ersten Kragenlitzen aus der Kadettenanstalt in die Ferien brachte, war Maurus schon so weit, daß er Adressen schrieb und die Portokasse verwalten konnte.

Trotzdem ästimierte man ihn nicht nach Gebühr im Elternhause. Man ließ ihn die alten Schuhe seines Bruders auftragen und beglückte ihn zuweilen mit abgelegten Badehosen und Schnurrbartbinden des Kadetten. Tanzunterricht erhielt er natürlich nie. Wozu auch sollte man ihn dem ewig Weiblichen näher bringen? Es war ja abgemacht, daß er ledig bleiben müsse und zu Lasten eines Drehstuhles, der unter einem grünen Lampenschirm im Bureau stand, und zwar gut genug als Erbonkel für die Kinder seines Bruders.

Als Marcellus Leutnant geworden war, gab es ein großes Abendessen im Hause Sterzelweg. Unterschiedliche Direktoren waren geladen, Agenten und Geschäftsfreunde. Maurus war ins Bett geschickt worden mit der Begründung, daß er schlecht aussehe und voraussichtlich wieder einmal die Wasserpocken bekommen werde, die er ja nun über ein dutzendmal gehabt hatte. Ob man ihn auch nicht in seiner Dachkammer oben vergaß, während man unten schwelgte? O, ganz gewiß nicht. Man schickte eine Aushilfsköchin zu ihm hinauf, die in Austernschalen ihm zutrug, was vom Kartoffelsalat übrig geblieben war. Maurus, immerhin der Sprößling eines emporstrebenden Hauses, mußte wissen, daß die Form die Hauptsache sei und nicht der Inhalt, und er durfte es auch nicht wagen, zu versuchen, ob in der dekorierenden Bordeauxflasche noch ein Tropfen Flüssigkeit sei oder nicht. Am nächsten Tage, wo dann seine Kinderkrankheit geheilt war und er wieder am Familientisch erscheinen konnte, war ihm reichlich Gelegenheit geboten, an den Überresten alles das noch nachzuprüfen, was die Zungennerven der Geladenen gekitzelt hatte und was man in Feinschmeckerkreisen Delikatessen nannte. Gewiß, in der Beziehung wurde ihm von seiten der braven Eltern nichts vorenthalten, was den jungen Mann heranbilden konnte, zumal der Feldmann, der Hund, nicht alles fraß, was man ihm vorsetzte, und gegen Senfsaucen und verpfeffertes Hühnerragout eine entschiedene Abneigung zeigte.

Ob Maurus, der nun schon einmal die erste Rekrutenmusterung hinter sich hatte, gar nicht empfand, wie stiefmütterlich er im Elternhause behandelt wurde? Schweigen wir darüber, mit welchem Ingrimm er zuweilen seine Nase in des Bruders zerrissenem Taschentuch putzte. Wie sein Herz blutete, wenn für den Bruder Leutnant der Wagen vorfuhr, während er ohne Regenschirm weggeschickt wurde, um für den erlauchten Herrn die Zahnstocher einzukaufen oder ein Päckchen Zigarettenpapier.

In jener Zeit ereignete es sich, daß Marcellus zum Regimentsadjutanten ernannt wurde und von jetzt ab die Schärpe über die Schulter tragen durfte. So hatten ihn die Leute im Städtchen noch nicht gesehen, und es war nur recht und billig, daß man den Guten, die jahraus, jahrein für die Firma schafften, diesen erhebenden Augenschmaus nicht vorenthielt. Natürlich warʼs, daß des Leutnants Mutter neben dem erhabenen Sprößling nicht unbeachtet bleiben wollte.

Während nun ein Urlaubsgesuch nach der Garnisonsstadt lief, das den Bruder an das erdichtete Krankenbett des Bruders forderte, bekam ein halbes Dutzend Schneiderinnen neue lohnende Beschäftigung in Brabanter Spitzen und Seidentaft, Maurus aber den Auftrag, den Handkarren zu schmieren, um des Herrn Adjutanten Gepäck an der Bahn abzuholen. Die genauere Zeit, wann diese Staatsaktion zu geschehen habe, sollte dem Buckligen erst noch mitgeteilt werden; denn es durfte nicht der Heimtücke des Zufalls überlassen bleiben, daß etwa gar die aufgetakelte Fregatte der Mutter mit der Dreckschute des buckligen Sohnes zusammen auf die Platte irgendeines unberufenen Amateurphotographen gekommen wäre.