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Bis an die Grenze

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Grazia Deledda
Bis an die Grenze

Erster Teil

I

Im Juli des Jahres 1890 beendete Gavina Sulis ihre Schulstudien.

Ihr Vater, ein ehemaliger Wegebauunternehmer und ein recht verständiger Mann, hatte sie die vierte Elementarklasse wiederholen lassen, weil es in der kleinen Stadt keine höhere Mädchenschule gab.

Als sie nach der Prüfung nach Hause ging, überlegte sie bei sich, daß die Tage der Freiheit und Muße nun für sie zu Ende seien. Sie war beinahe vierzehn Jahre alt, hielt sich schon für erwachsen und gedachte der Worte ihres Beichtvaters:

»Der Herr hat gesagt, die Frau soll das Haus hüten und Müßiggang und schlechte Gesellschaft meiden.«

Nun, was die Gesellschaft betraf: Gavina mied nicht nur schlechten, sondern auch guten Umgang; sie ahmte darin ihrem Beichtiger nach, der immer allein, mit gesenktem Blick, dicht an den Mauern entlang einherging.

Es war nahezu Mittag. Als Gavina das Ende der Straße erreicht hatte, wendete sie sich einen Augenblick zurück und blickte auf das alte Kloster, in dem die Schulen waren, und auf das melancholische, mit Oleastern und wilden Birnbäumen bestandene Tal, das sie so manchesmal von dem vergitterten Fenster ihrer Klasse aus betrachtet hatte.

Addio! Vielleicht würden Jahre vergehen, bevor sie das Tal, die einsame Straße, die schwarzgraue Fassade der Schule wiedersah.

Ihr Haus lag am anderen Ende des Städtchens, fast unterhalb des Berges, am Rande eines andern, nicht minder wilden, doch hin und wieder vom Grün und Grau der Reben und Ölbäume belebten Tales. Um nach Hause zu gelangen, mußte sie die ganze kleine Stadt durchschreiten, den Corso oder die Sträßchen hinter dem Corso.

Sie lenkte in diese ein. Es war ihr unangenehm, über den Corso zu gehen; sie verspürte Furcht oder Scham, von den Studenten gesehen zu werden, von den Städtern oder, schlimmer noch, von den Offizieren, die sich vor dem Café zur Post oder auf dem Marktplatz aufzuhalten pflegten. Diese Leute stellten für sie die Welt dar, das Leben, die Sünde. Begegnete sie ihnen, so pochte ihr das Herz; sie glaubte allein schon dadurch zu sündigen, daß das Leben mit seinem heißen Hauch an ihr vorüberstrich im bescheidenen Gewand eines Studentleins oder eines Beamten der Unterpräfektur. Auch in dieser Hinsicht gedachte sie der Worte ihres Beichtvaters: »Der Herr hat geboten, die Gelegenheit zu meiden.« Und darum ging sie durch die schlechtgepflasterten Gassen, in denen sie nur einer Bäuerin in ihrer rot und schwarzen Landestracht begegnete, oder vielleicht einem berittenen Hirten, oder einem Landmann, der mit seinem Wagen voll Korn oder Stroh vom Felde heimkehrte. Die heiße Luft dort roch nach Stoppeln, und im Hintergrund der Gassen, zwischen den steinernen Häuschen hindurch, hoben sich die in blauen Duft gehüllten Berge von einem metallisch glühenden Himmel ab.

Auch die Mauern, an denen Gavina entlang ging, glühten. Sie hatte weder Schirm noch Hut. Ein Tuch aus dunkler Seide, mit einer gewissen Koketterie über dem linken Ohr geknüpft, schlang sich um ihren Kopf und hob die grünliche Blässe des Gesichts mit dem harten Profil noch mehr hervor. Dieses dunkle, traurige Gesicht hatte einen fast asketischen Ausdruck; aber wenn unter den dichten Brauen die breiten bläulichen Lider sich langsam hoben, dann leuchtete aus den großen blauen Augen ein Strahl von Leidenschaft und Lebensfreude. Diese zwei Augen voller Licht gemahnten an zwei Stückchen blauen Himmels an wolkigem Tage.