Das altersmüde neunzehnte Jahrhundert war in die letzten Zwanzig eingetreten.
Gegen zwei Uhr Nachmittags stand Ovid Vere, Mitglied des königlichen Collegiums der Wundärzte, in seinem Londoner Sprechzimmer am Fenster und sah hinaus in den sommerlichen Sonnenschein und auf die stille staubige Straße.
Trotz seiner Jugend hatte er bereits jene Mahnung empfangen, wie sie den Vielbeschäftigten unserer Zeit leider ein guter Bekannter ist – jene Mahnung von der überanstrengten Natur zur Ruhe nach übermäßiger Arbeit. Mit einer vielversprechenden Carriere vor sich, erst einunddreißig Jahr alt, hatte er einen Collegen bitten müssen, seine Praxis zu übernehmen, damit er selbst seinem abgearbeiteten Kopf einige Monate Ruhe verschaffen könnte, und nun beabsichtigte er, sich am folgenden Tage auf der Yacht eines Freundes nach dem mittelländischen Meer einzuschiffen.
Für einen thätigen, mit Herz und Seele an seinem Berufe hängenden Mann ist es aber schwierig, die glückliche Kunst des Müßigseins im Handumdrehen zu erlernen.
Das bloße Aus-dem-Fenster-Sehen und Grübeln über das, was er zunächst thun solle, bewies sich für Ovid’s Geduld als eine zu starke Zumuthung und er setzte sich an seinen Arbeitstisch. Hätte er eine sorgende Gefährtin gehabt, so würde ihn dieselbe daran erinnert haben, daß er und sein Arbeitstisch unter den obwaltenden Verhältnissen nichts mit einander gemein hätten; ihm fehlte aber die Aufsicht einer Gattin und so durchbrach er die sich selbst gesetzten Regeln. Seine ruhelose Hand schloß eine Schublade auf und nahm aus derselben das Manuskript einer medicinischen Arbeit, an der er noch vor seiner Abreise ein Kapitel zu vollenden gedachte.
Bald aber begann ihm sein Kopf zu schwindeln der vorher bei dem bloßen Auf-die-Straße-Sehen ziemlich frei gewesen war. Die letzten Sätze des unvollendeten Kapitels bezogen sich auf etwas, von dem er sich noch nicht selbst durch den Augenschein überzeugt hatte. Er war aber ein geduldiger Mann, der sich zu helfen wußte, und durch eine Erkundigung beim Curator des Collegiums sowie durch Untersuchung eines in den Sammlungen des Collegs befindlichen Präparats konnte er sich die nöthige Bestätigung verschaffen. Da hatte er also ein Motiv zum Ausgehen, schloß das Manuskript wieder ein und machte sich auf den Weg nach Lincoln’s Inn-Fields.
Wohl nicht einer unter zehntausend, wenn er zufällig einem Freunde auf der Straße begegnet, denkt daran, welche Reihenfolge geringfügiger Umstände sie beide zur nämlichen Zeit gerade nach der nämlichen Stelle geführt hat, und deshalb merkt auch nicht der Zehntausendste, daß er bei aller Realität unseres Lebens mitten in der Romantik steht.
Seit dem Augenblicke, da der junge Arzt die Thür hinter sich geschlossen hatte, befand er sich auf dem Wege zu einer künftigen Patientin, die ihm persönlich noch eine Fremde war. Er kam nicht nach dem Collegium und schiffte sich nie auf der Yacht seines Freundes ein und zwar infolge einer Reihe trivialer Umstände, wie sie jedem, der einen Ausgang unternimmt, täglich zustoßen können.
Er hatte eben die nächste Straße erreicht, als ein Wagen an ihn heranfuhr, aus dem das heitere, wohlwollende, von einem buschigen Backenbarte eingerahmte Gesicht eines befreundeten Collegen sah, der ihn in herzlichem Tone fragte, ob er alle Vorbereitungen für seine lange Ferientour vollendet habe. Nachdem Ovid die Frage bejaht hatte, fragte er seinerseits:
»Wie geht es unserm Patienten, Sir Richard?«
»Ganz außer Gefahr»
»Und was sagen die anderen Doctoren jetzt?«
Sir Richard lachte. »Sie sagen, ich hätte Glück gehabt«
»Also sind sie noch nicht überzeugt?«
»Nicht im mindesten. Wer hätte auch je Thoren überzeugt! Doch um auf etwas Anderes zu kommen: ist Ihre Mutter mit Ihren neuen Plänen ausgesöhnt?«
»Das ist schwer zu sagen; sie befindet sich in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung, da das Testament ihres Bruders in Italien gefunden ist und dessen Tochter jeden Augenblick in England ankommen kann.«